In diesem Blog gab es bereits ein paar Artikeln zu Alain Badiou. In der Zeitschrift Critical Inquiry wurde in der Sommerausgabe 2011 eine kritische Analyse von Alain Badious Werk “Sein und Ereignis” geliefert. Die Autoren – die Gebrüder Nirenberg (Ricardo und David) – konzentrierten sich auf den mathematischen, konzeptuellen Bereich des Werks. Ist ihre Diagnose adäquat, hätte das negative Konsequenzen für die Glaubwürdigkeit des Projekts von “Sein und Ereignis”, in dem ein zentraler Eckpfeiler – Mengentheorie als Ontologie – ins Wanken gerät. Zuletzt wurde in derselben Zeitschrift auch eine Replik zur Kritik veröffentlicht, eingeleitet von Badiou und verfasst von zwei seiner “australischen Freunde” – Bartlett und Clemens: “Neither Nor”. Die Nirenberg-Brüder haben außerdem auf die Replik geantwortet.
Nachdem ich im Sommer die Nirenberg-Kritik gelesen habe, war mein Eindruck, dass sie zwar heikle Punkte erwähnten, dass einige der Einwände sich aber klären lassen, indem man Badious Verständnis von Ontologie ernst nimmt. Bei den anderen Punkten war ich interessiert, wie sich ein Philosoph der Gegenwart dieser Kritik stellen würde. Ich hatte also große Erwartungen an die Antwort von Badiou und dem Badiou-Freundeskreis.
“Aber was für eine Enttäuschung!” um es mit Badious eigenen Worten aus der Replik zu sagen. Mein erster Eindruck: Das ist unter dem Niveau einer wissenschaftlichen Diskussion. Ein destruktives Herumzanken. Personen wird mangelnde Kompetenz, Dummheit oder ideologische Voreingenommenheit unterstellt. Ich war enttäuscht von der harschen, unfreundlichen und proto-aggressiven Antwort, die an die Nirenberg-Kritik gerichtet war. So reagiert man also in der Badiou-Szene auf Versuche, (dunkle) Stellen in “Sein und Ereignis” skeptisch zu analysieren und in Frage zu stellen?
Nun, nachdem der erste Schock über den Stil etwas abgeklungen ist, ein Versuch, dieses Bündel von Kritiken und Repliken zu lesen und nennenswerte Punkte hervorheben. Immerhin geht es ja um ein interessantes, riskantes Thema, ein zeitgemäßes Verständnis von Ontologie, von Wahrheit, Politik und Mathematik. Ziemlich viel… ich beginne in diesem Artikel mit dem kleinsten Text, Badious Einleitung von “Neither Nor”.
1. Politische Motivation
Badiou sagt: Die Polemik der Nirenbergs hängt von politischen Überzeugungen ab, die sie, im Gegensatz zu Badiou selbst, nicht offen legen. Damit ist gesagt, dass auch Badious Werk von politischen Überzeugungen abhängt (wie, dazu werden in Punkt 4 noch Überlegungen angestellt). Welcher Art die politischen Überzeugungen bei den Nirenbergs sind, das expliziert Badiou nicht.
2. Mathematische Kompetenz
Badiou weist auf Paul Cohens generische Erweiterungen hin. Für das Verständnis von Wahrheit in “Sein und Ereignis” sei dieses mathematische Konzept der Schlüssel. Die Nirenbergs jeodch haben das Konzept gar nicht verstanden; deswegen verbleibt ihre Kritik auf dem ideologischen Level. Ob und wie Cohens generische Erweiterung im Rahmen der Technik des Forcing zu verstehen ist, wäre prüfenswert. Hier könnte man sachlich etwas beitragen. Badiou äußert sich jedenfalls folgendermaßen dazu:
But, dear friends, the force of a generic extension is to obtain models that validate propositions other than those that validate the ground model and not to conserve the same semantics! For this, it is necessary that what supplements the ground model is generic and therefore, in a precise sense, not constructible on the basis of that model. Otherwise one remains in the same semantics. It is precisely this characteristic, at once supplementary and nonconstructible, that makes the generic the formal schema of truths; they are added to the situation without being able to be directly deduced from it, and their deployment thus unveils unknown possibilities of the primitive situation. This attests that they aim at, in the situation, what the language of this situation cannot separate in it before the supplementation. This is why I call truths generic procedures. This definition can be contested, but you’ve still got to understand the formalism.
Badiou liest sich am Ende dieses Zitats ein wenig wie ein cholerischer Zen-Meister, der sich wundert, dass seine Besucher noch nicht erleuchtet sind und sie daher gleich wieder wegschickt. Er nennt sie “dearest friends”. Der Hauch von Väterlichkeit wird aber schnell hinweggefegt, indem er von vielzähligen “gewissenlosen Fehlern” beim Verständnis spricht und davon, dass seine Besucher bloß vortäuschen, zum Herz der philosophischen Fragen von “Sein und Ereignis” vorzudringen.
3. Mengenlehre als Ontologie:
Die Nirenbergs sagen – gemäß Badiou -, dass Hasen und Eifersucht keine Ähnlichkeit mit Mengen aus der Mengenlehre haben. Weniger polemisch formuliert, weisen sie auf eine Diskrepanz zwischen unserer Erfahrung und einer Ontologie auf Basis einer Mengenlehre hin. So eine Ontologie würden nämlich fordern, dass Objekte von anderen Objekten nicht beeinflusst/verändert werden dürfen. Das mag mit mathematischen Objekten gehen, aber nicht mit physischen.
Badiou hält dem entgegen, dass dieser Vorwurf für viele mathematische Modelle gemacht werden könnte. Denn auch Sterne und Kometen haben keine Ähnlichkeit mit jenen mathematischen Objekten, die in den Gleichungen der Astrophysik vorkommen. Und trotzdem können sie das Verhalten von Sternen erklären bzw. zumindest verständlicher machen.
Hier muss man den Nirenbergs entgegenhalten – und das tun Bartlett und Clemens schon zu Beginn mit einem Zitat – dass sie ein anderes Verständnis von Ontologie zur Prüfung heranziehen als Badiou: “The thesis that I support does not in any way declare that being is mathematical, which is to say composed of mathematical objectivities. It is not a thesis about the world but about discourse. It affirms that mathematics, throughout the entirety of its historical becoming, pronounces what is expressible of being qua being.”
Es geht nicht darum, Mengen als die einzig realen Objekte zuzulassen. Im ontologischen Diskurs á la Badiou wird die Mechanik der Präsentation (die Präsentation der Präsentation) studiert und beschrieben. Hier gehen die verschiedensten Annahmen von Badiou ein, die dann zu folgenden Schluss führen: Um zu verstehen, wie die Zählung von Vielheiten zu strukturierten Einheiten (Situationen) vor sich geht, ist die Mengentheorie hilfreich (bei “Sein und Ereignis” nicht nur hilfreich, sondern die einzige Wahl).
4. Eine politische Ontologie?
Die Nirenbergs glauben nicht, dass Politik und Ontologie in “Sein und Ereignis” zwei strikt isolierte Bereiche bei Badiou sind. Dazu möchte ich folgendes sagen: Politik und Ontologie bei Badiou sind zwar von einander isoliert, doch nur wenn man die Rechnung ohne Philosophie macht. Seine Philosophie hat nämlich die Politik als Bedingung (wie aus einem Interview hervorgeht ); Politik ist vor der Philosophie. Die von (kontingenter) Politik geprägte Lebensform betreibt im Fall von Badiou Philosophie und stellt fest: “Mathematik = Ontologie”. Badiou argumentiert dies, indem er ein bestimmtes Verständnis von Ontologie festsetzt und dann zeigt, wie es mit Mengentheorie zusammenhängt.
Wir sind jeweils durch etwas Kontingentes motiviert. Doch dürfen wir nicht den genetischen Fehlschluss begehen, dass dadurch die Resultate auf dem selben Kontingenzlevel angesiedelt sind.
Zu erörtern ist die Frage, ob die Rechnung von “Sein und Ereignis” aufgeht – bei den getroffenen und wohl verstandenen Annahmen und Fixierungen. Handelt es sich um einen Missbrauch der mathematischen Konzepte? Sind sie in “Sein und Ereignis” richtig verstanden? Und in den Texten seiner Kritiker? Aus dem Nachvollzug von Extrempositionen ist oft Brauchbares gewachsen und manchmal Bewegendes entsprungen, warum nicht hier?