Kein leeres Blatt

Vor 2 Wochen wurde ich auf Facebook nominiert. Eine Art virale Kampagne. Die Anleitung lautete in etwa:

  • Nimm ein leeres Blatt Papier.
  • Schreibe eines deiner Talente auf das Papier.
  • Poste in Facebook/Twitter ein Selfie, auf dem du mit dem Blatt zu sehen bist.
  • Nominiere drei Freunde.

Hier bitte, mit einer kleinen Verschiebung:

Verspielte_Ernsthaftigkeit
Kein leeres Blatt
ein gerastertes, palimpsestartiges Gebilde
eine Schicht verblasst
Neues schreibt sich in das Bestehende ein
manchmal von unserem Willen gestaltet

Im Rücken die Bücher
so zeige ich euch Text auf einem Tablet
man photographiert nicht gegen das Licht
darum bleibt der Bildschirm schwarz
Eine App modifiziert einige Pixel
und hinterlässt eine Signatur im Bild
ohne mich zu fragen

 

Mit dieser Aktion zeigt man seine Unterstützung der Kampagne “Jedes K!nd“, die eine “Bildungswende” in Österreich fordert. Eine herzerwärmende Initiative zu Weihnachten. Was im Verbreiten durch Selfies in den Hintergrund rückt ist eine Diskussion der Inhalte oder Forderungen dieser Bewegung.

Mitmachen? Klar, auf Facebook. Der Hang zur Selbstdarstellung wird für die Werbung eines guten Zwecks eingespannt. Ein Fall von Clicktivism.
Mitreden? Jein: Teilnehmen an einer Umfrage auf der Homepage im Rahmen eines Formulars.

Das sind die Regeln des Mitmachens. Solche Kanaldefinitionen sind nicht verächtlich, sondern Teil einer Initiative, die mit Feedback rechnen muss, um erfolgreich zu sein.

Ich bin Mitglied in einem Verein zur Förderung von Talenten. Da passt das Weiterleiten solcher Kampagnen zum Konzept. Was tun wir bei einer solchen Kampagne? Photographieren, posten und nominieren. Ist das die Zivilgesellschaft im 21. Jahrhundert? Abnicken und Weiterleiten? So eng darf man das nicht sehen: Es gibt noch mehr Möglichkeiten.

Im Folgenden ein paar gemischte Anmerkungen zu Form und Inhalt der Kampagne, sowie einen weiterführenden Gedanken. Ein schönes Thema rund um den Jahreswechsel. Man findet das Gestern im Heute und fragt nach dem Morgen.

1. Déjà-vu?

Die folgenden Sätze finden sich auf der Webpräsenz von “Jedes K!nd”:

  • Bildung heißt: Jedes Kind zur Teilhabe in der Gesellschaft ermächtigen
  • Jedes Kind braucht die beste Bildung
  • Vieles stammt noch aus dem 19. Jahrhundert
  • Kinder sollen nicht als Spielbälle politischer Gruppierungen missbraucht werden
  • Je früher ein Mensch seine Talente entdeckt, desto früher steigt Selbstwert.
  • Kein Talent darf verkümmern
  • Kein Kind darf zurückgelassen werden (Jedes Kind hat das Recht, mitgenommen zu werden)
  • Österreich braucht jedes Kind

Zutaten: Das Thema Bildung, griffige, kaum abzulehnende Slogans (“Die beste Bildung für jedes Kind”), und Social Media um das Anliegen zu verbreiten.

Habt ihr das schon einmal gesehen? Genau, #unibrennt, 2009. Hier jedoch organisiert sich nicht eine Menge von protestierenden Studierenden, sondern eine NGO, die am Bestehenden rütteln will. Sie entstand wohl 2013 rund um das Forum Alpbach und dem “Re:Think Ideenlabor”. Man findet auch Audio-Mitschnitte zum Thema von der Journalistin Sibylle Hamann. (Nebenbei erwähnt: Unterstützt wird die NGO u.a. durch eine Politikberatungsfirma, die 2009 die Moderation zwischen Universitätsleitung und #unibrennt Protestierenden bei den Arbeitsforen im Hochschuldialog übernommen hat und dessen früherer Geschäftsführer eine neue Partei gegründet hat. Nichts Verwerfliches. Die Welt ist klein).

2. Bildung? Nennt “das Kind” beim Namen

“Bildung heißt: Jedes Kind zur Teilhabe in der Gesellschaft ermächtigen”.

Das ist ein wichtiger Punkt. In der Umsetzung gehen die Meinungen stark auseinander. Sprüche wie “Kein Talent darf verkümmern” und “Österreich braucht jedes Kind” sind im Werbevideo stark mit warmen Gefühlen der Fürsorge und des Mitgefühls verknüpft, die vielleicht für Familienfilme passen, nicht aber wenn es um die Diskussion von Vorschlägen geht, wie der österreichische Staat seinen Bildungsauftrag für Kinder und Jugendliche gestalten soll.

Man kann einen zentralen Gedanken dieser NGO neutraler formulieren: Ein Land braucht gute Arbeitskräfte und clevere Bürgerinnen. Das passiert heute nicht so stark durch expliziten Drill, sondern durch das Wecken des eigenen Interesses. Man sagt jedem Kind wo es gut ist – und wo es sogar noch besser werden könnte. “Die Stärken stärken” heißt das in der Persönlichkeitsentwicklung und der Erwachsenenbildung.

Diese Maxime hat ihre Grenzen wenn es um Grundfähigkeiten geht: Es gibt ein Werkzeug, das man unabhängig von seinen Stärken und Talenten erlernen sollte, um in einer Gemeinschaft leben zu können. Das gehört zum Bildungsauftrag des Staates.

3. Kein Kind zurücklassen

Eine der wenigen inhaltlichen Kommentare die ich rund um die Initiative gefunden habe kommt von der Journalistin und Mitbegründerin Sibylle Hamann, die in einem Magazin der NEOS die NGO wie folgt beschreibt:

Wir wollen: Eine Schule, die Kinder nicht nach ihren Defiziten beurteilt und auseinandersortiert, sondern ihre Talente individuell fördert. Eine Schule, die wertschätzt und ermutigt und beflügelt. Eine Schule, die kein Kind zurücklässt, ehe es nicht erfahren hat, was es kann, was es will und was es mit seinem Leben anfangen soll.

»Leave No Child Behind«, sagte einst der konservative US-Präsident George W. Bush dazu. Eine solidarische Schule ist nämlich kein Gutmenschen-Projekt. Es ist eine ökonomische Notwendigkeit. Ein Land, das im Wettbewerb bestehen will, muss all seine Ressourcen nutzen. Österreichs Wirtschaft braucht die Talente aller seiner Kinder. Auch jener Kinder, die das Pech haben, bei bildungsfernen, desinteressierten, überforderten oder schwachen Eltern aufzuwachsen.

»Jedem Kind die Flügel heben« war einer der ersten PR-Sätze von Matthias Strolz. Die Forderung nach Autonomie für die Schulen war eine der ersten Forderungen der NEOS. Autonomie ist gut – aber sie ist nur die Hälfte der Geschichte. Autonomie allein würde alle aktuellen Probleme unseres Schulsystems noch verschärfen, deren wichtigstes die soziale Undurchlässigkeit ist.

Ich habe an den Schulen – und Hochschulen – in Österreich und in der Schweiz vieles gelernt. Eines ist, dass Bildung nicht etwas ist, was man bekommt, sondern ein thrive, den man selbst verfolgt, obwohl man nicht genau weiß, wohin das führt. Nagut, man braucht ein Umfeld: In einem gemeinsamen Zusammenhang, in einer Organisation, in einem Projekt oder in einem heterogenem Zusammenhang wie in einer Klasse, wo nicht alle das gleiche Ziel verfolgen. Jedoch: Der thrive ist nicht deckungsgleich mit den Erwartungen, den die Gruppe oder Institution an jemanden anlegen, damit man dazugehört. “Kein Kind zurücklassen” ist eine andere Formulierung des Dazugehörens.

4. Ignoranz als Antrieb?

Wie wenig hat mich das interessiert, dass Österreich gute Arbeitskräfte braucht, als man mir in der HTL das Feilen, das Drehen, das Löten und das Ohm’sche Gesetz beigebracht hat? Man tut es um durchzukommen und zu Hause hängt man im IRC ab, spielt Ego Shooters oder liest Stanislaw Lem. Zumindest für eine Weile.

Es war nachträglich betrachtet ein positiver Aspekt, dass die Schulen sich um manche Bereiche / Talente nicht systematisch gekümmert haben. Zwischen den Fähigkeiten des Lesens, Schreibens, Rechnens und Bauens die man in der Schule lernt, und der Tatsache, dass das Lebensziel undeutlich und unterbestimmt ist, entsteht ein Gap, der erkundet werden kann (nicht muss). Man kann sich etwa mit Dingen befassen, die von den Autoritäten einer Schule weder beurteilt werden noch für sie sonderlich interessant sind, obwohl man dadurch einige der in der Schule gelernten Fähigkeiten anwendet.

Kann die Schule lehren, was ich mit meinem Leben anfangen soll? Nein, nicht als Institution. Das verstehe ich auch nicht als Ziel des staatlichen Bildungsauftrags. Man kann das nicht von Systemen verlangen. Vielleicht helfen manche Personen, die man innerhalb der Institution trifft, Schulkolleginnen, Lehrer usw. Schule ist nicht die fürsorgliche Instanz, die jede Schülerin wertschätzen, ermutigen oder “beflügeln” soll. Wenn, dann sind Personen, nicht Institutionen, die Akteure dieser Tätigkeiten. Eine Institut kann solche Möglichkeiten zwar fördern, doch wie?

Wenn man Strukturen verlangt, die, wie von der NGO gefordert, “radikal individualisieren”, geht es dann um die engmaschige Kategorisierung von Menschen um sie recht schnell auf die Bahnen einer beruflichen Laufbahn zu bringen? Interessenslagen können wechseln. Ja, man kann sich nicht alles für immer offenhalten. Doch allzu schnelle Festnageln auf vermeintliche Stärken könnte die Chance nehmen, in der Jugendzeit zu experimentieren.

Vielleicht ist es möglich, in der Schule Grundfähigkeiten zu lernen, die einem eigene Interessen verfolgen lassen, im Verhältnis zu Erwartungen und Bedürfnissen von anderen Menschen. Klingt recht hoch gestochen, für technische oder andere berufsbildende Schulen.

5. Schule und Talentförderung

Ich möchte nicht Schule mit Talentförderung gleichsetzen. Ein Talent ist das, was sich durchsetzt, trotz individuellem oder kollektivem Förderunterricht, trotz der kleinteiligen Alignierungsversuchen eines noch so wohl intendierten Schulsystems. Ein Talent ist, was man als Antwort auf und parallel zu den Strukturen einer Disziplinierungsanstalt behält und weiterentwickelt.

6. Den Staat verklagen auf Einhaltung der Bildungspflicht

Im Vortrag im Forum Alpbach im November 2014 stellt Frau Hamann eine mögliche Aktion der NGO in den Raum:

“Es gibt eine Bildungspflicht. Und es gibt einen staatlichen Auftrag, jedem Kind etwas beizubringen. Der Staat hat einen Bildungsauftrag. Wir prüfen gerade Möglichkeiten, ob man dieses staatliche Versprechen einklagen kann. Ein Kind das sich bemüht, dennoch es in der Pflichtschule nicht schafft, die notwendigen Kompetenzen für sein weiteres Leben zu erwerben, hat die Schule verlassen, ohne ausreichend gelernt zu haben. Kann man den Staat auf Einhaltung dieses Versprechens verklagen?”

Entschuldigung? Die Bildungspflicht ist eine Selbstverpflichtung, etwa: diszipliniert sein und seinen Leidenschaften folgen. Der Staat bietet im Rahmen der Schulpflicht die Vermittlung von Fähigkeiten an, die unmittelbar und im weitesten Sinne von gesellschaftlichem Nutzen sind. In welcher Form bietet er es an? Ist das zeigemäß? Das ist eine Frage der Argumente und der Auseinandersetzungen, d.h. politisch und fachlich beeinflusst.

7. Die leere Seite. Ein Nebenschauplatz.

Zum Schluss noch eine weiterführende Überlegung zur Social Media Kampagne: Die zu Beginn erwähnten Aufforderungen (wie z.B.: “Nimm ein leeres Blatt Papier”), gehen von zwei Dingen aus: Einem weißen Blatt und dem Gestaltungswillen einer Person, recht klassische Mittel des Ausdrucks und der Selbstdarstellung. Der französische Forscher Michel de Certeau, dessen Buch “Kunst des Handelns” im letzten Artikel erwähnt wurde, hat hierzu geschrieben:

“Zunächst die leere Seite: ein “eigener” Raum grenzt einen Produktionsort für das Subjekt ein. Dabei handelt es sich um einen Ort, der von den Zweideutigkeiten der Welt befreit ist. Er ermöglicht die Zurückgezogenheit und die Distanz eines Subjekts gegenüber einem Aktivitätsbereich. Er steht für eine partielle, aber überschaubare Handlung bereit. Eine Trennung durchzog den traditionellen Kosmos, in dem das Subjekt noch von den Stimmen der Welt abhing. Eine autonome Oberfläche wird unter das Auge des Subjekts geschoben, das sich somit ein Feld für sein eigenes Tun verschafft. Also die cartesianische Geste eines Einschnitts, der mit dem Ort der Schrift die Herrschaft (und Isolation) eines Subjektes gegenüber einem Objekt erzeugt.

Jedes Kind wird vor seinem weißen Blatt bereits in die Position des Industriellen, des Städtebauers oder des cartesianischen Philosophen versetzt – in die Position, den eigenen und abgetrennten Raum organisieren zu müssen, in dem ein eigenes Wollen ins Werk gesetzt werden soll.”
(Michel de Certeau: Kunst des Handelns, Merve Verlag, Berlin 1988, S. 246)

Mittlerweile gibt es kooperative Räume, die nicht mehr voraussetzen, dass man in einer totalen Distanz und Autonomie einem passiven Raum gegenübersteht. Die Fiktion des “eigenen”, leeren Raumes lässt sich dort, wo Leute gemeinsam Wissen organisieren, nur noch in Randbereichen halten. Im Internet verblassen die Produktionen, werden überschrieben, müssen verteidigt werden. Die Personen, die an diesen Oberflächen arbeiten, müssen ihre Schlusspunkte selbst setzen. Fähigkeiten der Navigation werden wichtiger: sich in einem komplexen Netz an Informationen zurechtzufinden, in dem man vielleicht nicht ALLES ganz genau wissen und kontrollieren kann, sondern weiß, an welchen Stellen man im konkreten Fall genauer nachsehen muss, was man – fürs Erste – unanalysiert lässt, welche Quellen man als vertrauenswürdig ansehen kann, und vieles mehr. Sich einbringen können, in solchen Räumen, nicht nur Spielball zu sein für Expertinnen von Technologie-Konzernen oder von Community Managern oder Pegida-Wortführern, wird wichtig für den Bildungsauftrag im 21. Jahrhundert sein.


Das kann heißen, selbst Expertin werden. Und/Oder: Philosophin:

[D]er Experte und der Philosoph: Beide haben eine Vermittlungsaufgabe zwischen Wissen und Gesellschaft: ersterer, indem er seine speziellen Fähigkeiten in den weiten und komplexen Bereich gesellschaftspolitischer Entscheidungen einbringt, und letzterer, indem er gegenüber den einzelnen Techniken (Mathematik, Logik, Psychiatrie, Geschichte, etc.) auf der Relevanz von allgemeinen Fragestellungen beharrt. Beim Experten setzt sich Kompetenz in gesellschaftliche Autorität um; beim Philosophen werden banale Fragen zu einem Prinzip des Verdachts gegenüber einem technischen Bereich. [… Ein] zwiespältiges Verhältnis (mal Faszination, mal Ablehnung) des Philosophen zum Experten […]
(Michel de Certeau: Kunst des Handelns, Merve Verlag, Berlin 1988, S. 44)

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