Open Source Tugend

Front cover of Areté issue 20, 2006.
Image via Wikipedia

Ich kann nicht behaupten, dass mich die Theorie der Tugend je interessiert hätte. Wenn man über Sokrates und Plato arbeitet, kommt man allerdings nicht ganz daran vorbei. Die “ἀρετή” [Arete: Tauglichkeit, Exzellenz, (sittliche) Vortrefflichkeit] hat eine auffällige Position. Einerseits gibt es “gute” Schuster oder Baumeister, andererseits das Streben nach “dem Guten”. Philosophie appliziert die Qualität, die aus handwerklichen Fertigkeiten bekannt ist, auf das menschliche Leben schlechthin.

Erstaunt und neugierig registrierte ich eine Abhandlung über Commons-based Peer Production and Virtue. Sie enthält eine hervorragende Zusammenfassung der wichtigsten Thesen Yochai Benklers und einen lachhaften Versuch, die ganze Gelehrsamkeit etablierter philosophischer Forschung für die Feststellung zu mobilisieren, dass Tugend zur Mitarbeit an open source Projekten veranlasst und dass solche Projekte umgekehrt zur Tugend verhelfen können.

Zeitgleich bemerkte ich ein persönlicher gewendetes Statement zu diesem Zusammenhang. Peter Fleissner formuliert Thesen zur Wissenschaftspolitik, in denen ebenfalls Wissenschaft, Sittlichkeit und open source zusammengeführt werden

Wissenschaftliches Denken darf nicht auf der Ebene des Positivismus stehenbleiben, sondern muss mit Wertfragen und ethischen Dimensionen zusammengeführt werden. Wissenschaft muss menschlich und emanzipatorisch werden, an Friedenserhaltung, sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit ausgerichtet sein und nicht bloß an wirtschaftlichen Partikulärinteressen, was sich auch im Bildungswesen niederschlagen soll. Es wäre zu untersuchen, ob und wie weit Persönlichkeitsbildung (Fähigkeiten zur Kooperation, Selbstkritik, Empathie, Großzügigkeit, Selbstlosigkeit, Perspektivenwechsel, interkulturelle Erfahrungen etc.) im Zuge des Bildungswesens explizit vermittelt werden kann.

Soziale Experimente alternativer Arbeits- und Lebensformen auf freiwilliger Basis sollen nicht verhindert, sondern gefördert, durch Begleitforschung professionalisiert und in den Massenmedien verbreitet und zur Diskussion gestellt werden. Beispiele sind zahlreich: Studienzirkel, regionale Tauschkreise, open source Bewegungen, creative commons, targeted intelligence networks, Kommunen aller Art etc.

Was soll man dazu sagen? Was soll man sagen? Das ist vielleicht das Problem: “Wissenschaftliches Denken darf nicht auf der Ebene des Positivismus stehenbleiben, sondern muss mit Wertfragen und ethischen Dimensionen zusammengeführt werden.” Diesen Imperativen zu gehorchen ist die Voraussetzung dafür, dass sie ihre Arbeit tun.

Seiltanz zwischen Informatik und Philosophie

Ja, ein neues Uni-Jahr hat begonnen. Und wieder einmal überlege ich mir, welche Seile man zwischen den Klüften aufspannen kann, die zwischen Philosophie, Informatik und Alltag/Domain mehr oder weniger vorhanden sind. Es hat sich etwas ergeben, was schon in manchen Semestern zuvor (aber weniger drastisch) passiert ist: Auf erstaunliche Weise überschneiden sich einige der Lehrveranstaltungen thematisch. In diesem Semester passiert das so, dass die Themenbereiche der LV’s zwar heterogen sind, jedoch die einzelnen Schnittstellen eine Kette bilden, die sich sozusagen zu einem Gesamten zusammenfügen. Dieses Semester ist für meine Vorstellungen vor allem deshalb interessant, weil durch die Kompetenzerweiterungsfächer des Informatikstudiums die Reflexion über die Informatik zum Thema gemacht wird, was das Spannen von Seilen zwischen Informatik und Philosophie etwas erleichtert.

Um genauer zu zeigen, was ich damit meine, werde ich einige für das Thema relevante Lehrveranstaltungen aus meinem Semesterplan herausgreifen und ein paar dieser Verkettungen beschreiben. Zur Vereinfachung führe ich folgende Abkürzungen ein:

  • OSP (Open Source Philosophie)
  • SGG (Sozial&Geisteswissenschaftliche Grundlagen)
  • PPS (Projekt: Platos Staat interaktiv)
  • EK (Evolution der Kooperation)
  • TP (Theoretische Philosophie)
  • GA (Geschichte der Philosophie – Antike)
  • IuR (Informatik und Recht)
  • IuG (Informatik und Gesellschaft)
  • OPT (Optimierung und Simulation)
  • GPI (Great Principles of Information Technology)
  • POS (Wider die Auflösung aller Wahrheit – Geschichte und Bedeutung des Post-Strukturalismus für ein zeitgemäßes Denken)
  • XXX (Informatik-Lehrveranstaltungen vergangener Semester, die bestimmte Technologien zum Thema hatten)

Ich habe versucht, bei dem folgenden Komponentendiagramm die Syntax der Symbole weitgehend dem UML-Standard entnommen, soweit es sinnvoll war. Vor allem bei den Interfaces (die Kreise mit den Linien dran, sogenannte Lollypop-Notation). Trotzdem sollte man das Diagramm nicht nach den strengen formalen Regeln, wie sie UML vorschreibt, lesen. Die Zusammenhänge sind außerdem nicht vollständig.

Mind the Gap!
Mind the Gap! (click to enlarge)

Zur Erläuterung: Sehen wir uns zunächst einmal die LVs der Disziplinen isoliert voneinander an.

Philosophie:

  • Innerhalb der Philosophie bildet TP den allgemeinen Rahmen, der helfen kann, spezielle Wege in einen größeren Rahmen einzuorden.
    • Update: Durch eine Verschiebung der Vorlesungszeiten kann ich TP leider nicht absolvieren. Der allgemeine Rahmen sollte aber zumindest durch mein Vorkenntnis gegeben sein)
    • Update2: TP-Streams gibt es auch in der Philosophischen Audiothek, was für mich die optimalste Lösung ist. Das freut mich.
  • GA ist vor allem zur Ergänzung von PPS und OSP wichtig und umgekehrt können Detailerkenntnisse von PPS und OSP zu GA fließen.
  • PPS liefert, da es sich um ein Projekt handelt, das aller Voraussicht von der Kooperation mit anderen LV-Teilnehmern lebt, weitere Erfahrungen mit Kooperation, die in EK zur Falsifizierung der dort behandelten Theorien dienen kann.

Vermittlung (interdisziplinär):

  • Bei den Vermittlungs-Lehrveranstaltungen bilden OSP, IuG und SGG die Basis. Diese drei speisen alle mehr oder weniger von rechtlichen Überlegungen (vor allem was Datenschutz und geistiges Eigentum) betrifft, was in IuR Thema sein soll.
  • Update: PPS sollte in unmittelbarer Nähe zu den Vermittlungs-Lehrveranstaltungen gesehen werden.

Allgemeine Informatik:

  • Die ordnende Komponente, die den Anspruch hat, die Technologien von OPT sowie diverser anderer LVs aus vergangenen Informatik-LVs (XXX) invarianteren Prinzipien zuzuordnen, ist GPI. Als ich heute die Einführungseinheit hörte, hat mich dieser Anspruch positiv überrascht (vgl. weiter unten).

Medizininformatik:

  • Ich habe die einzelnen LVs nicht mehr extra herausgehoben (man könnte hier noch viele spannende Verbindungslinien finden, doch der Überschaubarkeit zuliebe lass ich das mal). Wichtig ist, dass man hier in den Anwendungsbereich (Domäne) der Informatik kommt. Im Prinzip kann man diese Domäne als gesellschaftlichen Bereich fassen, in dem bestimmte Tätigkeiten ausgeführt werden. Ein Pflegeheim zum Beispiel. Wie kann die Informatik in den Alltag eines Pflegeheims eingreifen? Welche Anforderungen hat sie, welche Probleme gibt es bereits beim Einsatz von IT-Technologien in Pflegeheimen? Hier wären rechtliche Fragen sicher auch bedeutsam, doch in Rahmen von IuR wird das voraussichtlich nicht thematisiert.

Seile spannen:

  • Die Philosophie holt sich bei PPS, das ist sicher bemerkenswert, Technologien direkt aus der Informatik, denn das Projekt wird mit einer Art Programmiersprache (auch wenn sie der natürlichen Sprache nahe kommt) realisiert.
  • OSP wird vielleicht duch Reflexionen über die in der Gesellschaft integrierte IT-Technologie etwas erfrischend Neues zum Selbstverständnis der Philosophie zu sagen haben (Stichworte: Kooperation, Demokratie), was vielleicht sogar in Kontrast zur antiken Philosophie steht.
  • Alle Kern-Vermittlungs-LVs reflektieren auf bestimmte Weise über die Prinzipien der Informatik oder die Einbettung der Informatik in alltägliche soziale Tätigkeiten (Pflegeheime, politische Betätigung, Selbstdarstellung,…).

Alles in allem ist, wie ich finde, das Ensemble der Lehrveranstaltungen in diesem Semester zu einem großen Teil gelungen. Es sieht zumindest auf den ersten Blick so aus, als ob das möglich wäre, was ich mir seit Beginn des Studiums wünsche: Einen konkreten Bogen zu spannen zwischen verschiedenen Denkansätzen, vornehmlichen denen der Informatik und der Philosophie. Die vor Ideen strotzende Philosophie wird über Vermittlungsstufen, die sich auf aktuelle gesellschaftliche Strömungen, sowie antiken Vorstellungen beziehen, durch die formalen Prinzipien der Informatik geschleust, um die Ideen von Jahrtausenden für die Probleme des Alltags (im Krankenhaus, im Forschungsbetrieb, im Freizeitbereich, …) zu übersetzen und vielleicht nutzbar zu machen. Dieser eigentlich Umweg von Philosophie zu den alltäglichen Gegebenheiten unseres Lebens über die Informatik dürfte für Alltag, als auch für Philosophie und Informatik fruchtbar sein, neue Perspektiven aber auch Warnungen eröffnen.

Vielleicht täusche ich mich auch, und das Ganze sieht in einem Diagramm viel übersichtlicher aus, als es dann, wenn man sich mit den Themen beschäftigt, tatsächlich ist und man verliert sich in Detailfragen der ein oder anderen Disziplin, ohne dass man fähig wäre, ein Seil zu spannen, dass irgendwie fruchtbar wäre.

GPI: Der Weg aus der Ingenieurswissenschaft

Wie oben angekündigt, noch eine kleine Reflexion über die erste GPI-VO-Einheit:

Es hat sich ergeben, dass in diesem Semester in der Informatik selbst Tendenzen zu erkennen sind, die das Spannen eines Seils zwischen ihr und der Philosophie erleichtern. In GPI wird versucht, längerlebige Prinzipien, die hinter den schnell sich abwechselnden Technologien auftreten, zu identifizieren. Dies ermöglicht es, GPI als ein ideales Interface für die Vermittlungsstufen  zur Philosophie  anzusehen, das die anderen in der Informatik verwendeten Technologien auf ein allgemeineres Niveau hebt. Natürlich heißt das nicht, dass dies schon alles wäre, was zur Informatik zu sagen wäre, gerade wenn es um die Einbettung der Technologien in die sozialen, alltäglichen Tätigkeiten geht, sind Philosophie, Soziologie und Kognitionswissenschaften gefragt, nachzudenken.

Worauf ich mich beziehen wollte war, dass es sich nicht nur so verhält, dass die Philosophie sich der Informatik annimmt, um sie auf den rechten Pfad zu leiten, sondern dass umgekehrt die Informatik ihren Ruf, Ingenieurswissenschaft zu sein, aufgrund der steigenden Komplexität aufzugeben hat, und ihre vielfältigen heterogenen Technologien, die sich schnell ablösen, daraufhin zu untersuchen, ob es beständigere, weitgehend invariante Prinzipien gibt, die zwar nicht ganz so hart wie die der Naturwissenschaften auftreten können, dem Informatiker jedoch stark helfen, sich in einem Wald von Technologien zurechtzufinden.

Und eine weitere interessante Frage stellt sich: Welche Grenzen ergeben sich, wenn man denjenigen oder dasjenige berücksichtigt, der oder das die Technologien benutzt? Welche Folgen hat ein Umgang mit einer Klasse von Technologien (die durch ein oder mehrere Prinzipien konstitutiert wird) für den alltäglichen “User”? Wie verändert sie das Leben des “Users” oder die Aktionsmöglichkeiten des “Bots”?

Ein Seiltanz ist gefährlich und gewagt – man fliegt vielleicht auf die Nase oder bricht sich das Genick. Irgendwann aber ist man vielleicht soweit und stellt sich nicht mehr so unbeholfen an, wenn man auf die andere Seite geht. Dann kann man mit dem Brückenbau beginnen…

Video: Hegeldiskussion

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Vor fast genau einem Jahr (6.6.2007) fand im Festsaal der Gesellschaft der Ärzte eine Podiumsdiskussion zur Aktualität Hegels statt. Anlass war die Präsentation eines Buches zur “Phänomenologie des Geistes” (herausgegeben von Thomas Auinger und Friedrich Grimmlinger). Die davon hergestellte DVD habe ich als Webstream zugänglich gemacht.

h.h.

Mein Quatsch zur Podiumsdiskussion um Bildung

Habe einige Gedanken, die mir nach Erleben der Podiumsdiskussion um die Zukunft der Hochschulbildung im Kopf herumgeschwirrt sind, niedergeschrieben und auf meine Homepage gestellt.

http://www.unet.univie.ac.at/~a0600112/Berufsbildung.htm

Eine wichtige Diskussion, bei der jeder Betroffene seine Vorstellungen und Kritikpunkte zur Sprache bringen können sollte.

Andyk

Bedeutungsservice

In einer Lehrveranstaltung über Sokrates in diesem Semester möchte ich eine Verbindung mit Fragen der Wissensgesellschaft herstellen, die ich im vergangenen Jahr behandelt habe. Darum ist mir dieser Satz aus Platons Menon sofort aufgefallen: “Bei den Leuten, die sich erklärtermaßen auf eine nützliche Dienstleistung verstehen …” (91c) Die Sophisten sind danach Vorläufer der post-industriellen, service-orientierten Verhältnisse.

Eine suggestive Übersetzung von Margarita Kranz in der Reclam-Ausgabe. Die ist also garnicht so klassisch, wie ihr Anschein. Schleiermacher übersetzt: “Diese allein unter allen denen, welche sich dafür ausgeben, etwas Gutes erzeigen zu können …” Das klingt nicht so, als ob es sich um dieselbe Textgrundlage handelte. Ist aber textgerecht. “epistastai euergetein”: sich darauf verstehen, Gutes zu tun”.

Ein klassischer Fall von wörtlich gegen suggestiv.

Dazu eine Aussage, die ich gestern auf einem Podcast gehört habe: Unternehmen brauchen “soft skills”. Es ist also nicht nur so, dass wir das in alle Bologna-Curricula zu schreiben versuchen, es gibt wirklich eine Nachfrage. Und dazu, wie die Amis schon so sind, ein passendes Schlagwort: “meaning facilitators”. Übersetzung? Siehe die Überschrift.

Zum Aufwachen

Wenn ich (wie im vorigen Beitrag) Dieter Henrich kritisiere, sollte ich auch sagen, was man anders machen kann.

Es ist ein ironischer Umstand, dass Hegel, ein Hauptgewährsmann der klassischen deutschen Philosophie, für die Dieter Henrich so nachdrücklich eintritt, zu den vehementesten Kritikern des Bildungsbegriffes gehört. Ich habe das in einem Vortrag mit Bezug auf die Wikipedia näher ausgeführt.

Zur Einstimmung hier der erste Absatz aus dem Artikel, den ich im Anschluss daran geschrieben habe:

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Zum Einschlafen

Anläßlich eines Artikels über Hegel und die Wikipedia habe ich mich wieder mal nach deutsch-philosophischen Publikationen über Bildung umgesehen. Eben erschienen ist vom alten Meister Dieter Henrich Die Philosophie im Prozeß der Kultur und darin zwei Texte zum Thema. “Menschsein – Bildung – Erkenntnis”. Die Aussicht:

Sie (sc. Bildung) ist der Gewinn und die Ausgestaltung eines Lebens, das sich nicht in Verstellungen verfangen hat und das der Aufgabe nicht ausweicht, die ihm aus seinem ursprünglichen Selbstbewußtsein unabwendbar zuwächst. Auch das ist ein Grund dafür, ihm Souveränität, Allbezüglichkeit und eine wachsende innere Konsistenz zuzusprechen. S. 178

Solche Passagen sind einschläfernd und unbestreitbar zugleich. Ich kann die Sympathie nicht leugnen, die ich dem Versuch entgegenbringe, etwas zu sagen, dem niemand widersprechen kann. Vor allem, wenn die Aufgabe darin besteht, die Hörerinnen davon zu überzeugen, dass sie eigentlich gegen diese Sätze gar nichts haben können. Das ist so wie einer Mittelschulklasse die Aktualität des “Prinz Friedrich von Homburg” nahebringen. Und dennoch ist dieser Duktus der akademischen Betulichkeit kaum erträglich.