offen gewagt

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Die Philosophische Audiothek wird seit mehreren Jahren auf einer Plattform betrieben, die unter dem Titel “Mediacore” als ein open source Projekt begonnen hat. Vor drei Jahren kam es zu einer Reorganisation. “Mediacore” wurde zu einem kommerziell angelegten Cloud-Unternehmen, während der aktuelle Stand der Entwicklung als Mediadrop zu einem “community project” abgezweigt wurde.

Weder das geschäftliche Unternehmen, noch der open source Ableger waren sonderlich erfolgreich, obwohl die Plattform durchaus gute Dienste leistet. Die Botschaft kam also nicht ganz überraschend:

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Vergeblichkeiten

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Ein winziges Anzeichen des Flüchtlingstroms, der vergangenes Wochenende durch Wien rollte, war der schmale, vielleicht 20-jährige, junge Erwachsene, der mir gegenüber im Abteil des Nachtzugs nach Zürich saß. [1. Andreas Kirchner schließt seinen vorhergehenden Beitrag mit einer Überlegung zur Diskrepanz zwischen allgemein hoffähiger Vernunft und dem nicht steuerbaren individuellen Ausbruch aus dieser Regulierung. Hier eine Umkehrung: von der individuellen Desorientierung zu ihrer gesellschaftlichen Integration.] Stumm, ohne Bewegung, defensiv in sich eingeschlossen, strahlte er eine Extraterritorialität aus, die davon abhielt, ihm näher zu kommen. So fremd, dass man sich kaum dazu brachte, ihn als “Flüchtling” zu klassifizieren.

Bis an der Schweizer Grenze die Polizei durch die Waggons ging und Ausweise verlangte. Der Mann stand auf, holte seinen Rucksack vom Gepäcksnetz und tat so, als würde er das Dokument suchen. Der Polizist wartete geduldig. Nach einer Minute die Geste, dass es keinen Ausweis gibt. “What country do you come from?” “Syria”. Mitkommen. Widerspruchslos folgte der Syrer dem Schweizer, der ihn aus dem Zug holte.

Was war der Sinn dieser Episode? Warum fährt jemand durch ganz Österreich, um sich am Ende abfangen und retournieren zu lassen? Die Frage steht stellvertretend für die Hilf- und Ratlosigkeit, welche die gegenwärtige Entwicklung auslöst. (Ich spreche nicht von der befreienden Solidarität, sondern vom Fehlen einer längerfristigen politischen Perspektive.) Unter diesem Fragezeichen verbrachte ich die nächsten Tage in Zürich.

 

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Athen und Bologna

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Jean-Claude Juncker spielt seit dem Scheitern der Verhandlungen vorletzte Woche keine öffentliche Rolle in der Griechenlandkrise. Antonis Samaras, der frühere Premierminister, hat den Parteivorsitz zurückgelegt. Die überwältigende Ablehnung der Vorschläge aus Brüssel lässt für Vermittlungsversuche keinen Platz. Beide haben versucht, zwischen der Herrschaftslogik der Geldgeber und den Lebensansprüchen der griechischen Bevölkerung zu lavieren und sich dabei schließlich eine Abfuhr geholt.

Die Abfuhr ist verständlich und: ich stehe auf der Seite der beiden Verlierer. Diese in sich gebrochene Position soll ein Rückblick auf Erfahrungen in der Universitätspolitik erläutern.

 

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Unter alten Linden liegt Waxenberg …

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Ernst Rüdiger Starhemberg, ein oberösterreichischer Adeliger, beschreibt das “liebe alte Haus” in dem er als Kind und Jugendlicher den Sommer verbrachte.

… ein schlichter einstöckiger Bau, bis unters Dach von immergrünem Efeu bedeckt. Träumerisch plätschert im Schloßhof ein alter Granitbrunnen, von Moos überwachsen.

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Heimat: Hafen und Hölle

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Andreas Kirchner schreibt im vorigen Blogeintrag:

Daraus kann ich mein Verständnis von Heimat gewinnen: Das, was einem ermöglicht, etwas Neues auszuprobieren. Ein Ort, von dem aus man aufbrechen und aus dem man immer weitere Möglichkeiten erhalten kann. Genauso wie meine Identität ist dieser Ort nicht eindeutig, er ist entzogen, zeigt sich fragmentarisch.

Ich möchte das an einer kurzen Episode testen, die sich unlängst in einer Tabaktrafik zugetragen hat. Es geht dabei nicht direkt um Heimat, wohl aber um die Herstellung von Identität und Fragmentierung an einem Ort der Möglichkeit und Flucht.

 

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“Ich bitte Sie alle: sind Sie aufmerksam!”

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Gerd Bachmann macht auf einen ORF-Bericht aufmerksam[1. Ich beziehe mich auf seinen Beitrag in der mailing list epoche. Zugänglich für Subskribentinnen]. Es geht um das “Fest der Freude” zum Gedenken an das Ende des 2. Weltkriegs.

Die Zeitzeugin Helga Emperger, die erzählte, wie sie 1944 von der
Gestapo inhaftiert wurde, appellierte an die Besucherinnen und Besucher:
„Seien Sie aufmerksam, seien Sie wachsam, und sollte es irgendwo
Tendenzen geben, die unsere österreichische Demokratie gefährden, stehen
Sie auf!

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Lessings Ringparabel hat Saison. Sie passt gut in das Profil der Veranstaltungen zur 650-Jahr-Feier der Universität Wien[1.Lessings Ringparabel und die Verständigung zwischen den Religionen]. Sie markiert den Kontrast zum mörderischen Religionskrieg im mittleren Osten und gibt Gelegenheit, die eigene Toleranz zu feiern. Man sollte sich dabei vor Augen halten, dass der Effekt des Lehrgedichts auf Voraussetzungen beruht, die selbst nicht fraglos gelten[2.Annäherungen an Toleranz]. Lessing lässt jedoch keinen Zweifel darüber aufkommen, worin die Pointe besteht.

Alle positiven und geoffenbarten Religionen sind folglich gleich wahr und gleich falsch.[3.Lessing über geofffenbarte Religion]

Der Intellektuelle verbirgt sich hinter einem sphinxischen Lächeln. Das ist mir zu einfach. Noch einfacher wäre akzeptabel, wenn er die die ganze Frage für unsinnig erklären würde. Aber das ambivalente Spiel mit Wahrheit und Falschheit ist eine Rafinesse für Connaisseurs. Unter Umständen muss Wahrheit auch Anstoß erregen. Ein Anschauungsbeispiel folgt.

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Wittgenstein im Festsaal und am Monte Cassino

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Das Deckenfresko des berühmten Festsaals der Österreichischen Akademie der Wissenschaften von Gregorio Guglielmi wurde nach einem Brand im Jahr 1961 vom Theatermaler Paul Reckendorfer rekonstruiert. (Wikipedia)

Der Saal war Ende Februar Schauplatz eine Veranstaltung “Wittgenstein. Sprache und Musik”. 80 Minuten lang las “die Doyenne des Wiener Burgtheaters” aus Hermine Wittgensteins Familiengeschichte und den Briefen ihres Bruders. Es folgte Pause mit Buffet und danach die Aufführung einiger Lieblingsstücke Ludwigs, begleitet von einschlägigen Aphorismen.

Die Inszenierung folgte einer Idee Michael Nedos und zeigte, wie seine “Wiener Ausgabe” des Nachlasses, kulinarische Züge. Eine Feierstunde für die gehobene städtische Intelligenz. Während Nedo mit guten Gründen den traditionellen Luxus einer Buchedition als Hilfestellung zum Verständnis des philosophischen Werkes darstellen kann, erwies sich die Schriftlesung mit Musik allerdings als typische “würdevolle Gedenkveranstaltung”, die “den Geist des Meisters” heraufbeschwört.

Im Gegenzug empfiehlt sich diese Erinnerung Ludwig Hänsels an seine Kriegsgefangenschaft, zusammen mit dem jungen Leutnant:

Lt Wittgenstein fährt fort, mir die Fregesche Begriffsschrift in der neuen Gestalt vorzuführen. Ich habe Mühe, den Zeichen zu folgen. Mein erster Widerstand gegen die „Oder“ Auffassung war begründet. Ich faßte es rein disjunktiv. Er ist superlativisch, edel, begeistert (Tolstoj’s Volkserzählungen, Prosa Kellers oder der Grimm-Märchen. Das Evangelium ist sakrosankt, nicht berührbar, über allem Gerede – gegen unsere Übersetzungsversuche am Galaterbrief.) Er ist sehr nervös, stößt die Luft durch die Nase. Blaue Augen. Furchige (alte?) Züge. Bewegliches, sehr aufrichtiges Mienenspiel. Edle Kindlichkeit.

petites mesquineries

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Alain Badiou operiert, das ist im vorigen Beitrag angesprochen worden, mit der Kategorie Rechtschaffenheit. Ein Beispiel ist Jeannne d’Arc, “une héroïne sublimement chrétienne”, die er gegen Voltaires frivole Satire in Schutz nimmt. Das geschieht in einem Beitrag in “Le Monde”, in dem er die folgende Parallele zieht: “Voyez les obscénités de Voltaire à propos de Jeanne d’Arc : son La Pucelle d’Orléans est tout à fait digne de Charlie Hebdo.”

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Bildung: Dekomposition und Symphoniekonzert

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Andreas Kirchner hat sich auf meine Bemerkungen zur kritischen Analyse als Aufgabe der Philosophie bezogen und ihnen als Alternative die Entwicklung von Spielräumen gegenübergestellt:

Eine Aufgabe der Philosophie ist Begriffsklärung. Eine andere ist Erfindung – das Erkunden von Wegen und das Aufzeigen von Optionen.” [1]

Ich möchte das Verhältnis der beiden Aufgaben anhand von Überlegungen nachzeichnen, die mich im vergangenen Semester beschäftigten, ausgehend nochmals vom Begriff Bildung.

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