Bildung: Dekomposition und Symphoniekonzert

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Andreas Kirchner hat sich auf meine Bemerkungen zur kritischen Analyse als Aufgabe der Philosophie bezogen und ihnen als Alternative die Entwicklung von Spielräumen gegenübergestellt:

Eine Aufgabe der Philosophie ist Begriffsklärung. Eine andere ist Erfindung – das Erkunden von Wegen und das Aufzeigen von Optionen.” [1]

Ich möchte das Verhältnis der beiden Aufgaben anhand von Überlegungen nachzeichnen, die mich im vergangenen Semester beschäftigten, ausgehend nochmals vom Begriff Bildung.

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Beratungsmuster

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Vor langer Zeit, als es an österreichischen Universitäten Personal- und Berufungskommissionen gab, die aus Professorinnen, Mittelbau und Studentinnen kollegial zusammengesetzt waren, beobachtete man eine bedenkliche Entwicklung. Es kam oft auf den Durchschnitt an, den Kandidatinnen aus den ziemlich divergenten Interessen zu ziehen vermochten. Die Tendenz ging in Richtung “nirgends anstreifen” und wer die Umstände gut kannte, hatte die besten Chancen. Wo sind die Zeiten hin?

Ein “Doktoratsbeirat” wacht mittlerweile darüber, dass nur solche Studierende im Doktoratsstudium betreut werden, die in einer “fakultätsöffentlichen Präsentation” bestehen. (Ich war Vorsitzender der Curricularkommission der Universität, als das beschlossen wurde.) Dabei ergibt sich ein anderes Bild.

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Schattenspiele

William Kentridge hielt am Dienstag und Mittwoch zwei Vorlesungen im Rahmen der Wiener Festwochen. Die erste mit dem Titel “In Praise of Shadows” und — ich hatte die Vorankündigung nicht genau gelesen — zu meiner Überraschung über Platons Höhlengleichnis. Das ist ein eigentümliches Ding. Es gehört zu den ältesten und abgegriffensten Motiven der Philosophie und ist doch immer noch eine Herausforderung. Ich bin im Zusammenhang mit dem Film “Matrix” und mit der Bolognareform darauf zurückgekommen. Einen Beitrag zu einer paideia-Konferenz habe ich gerade fertiggestellt: “Paideia, Progress, Puzzlement”.

Umso gespannter war ich, zu hören, was Kentridge mit dem Motiv macht. Es war phantastisch. Die Vorlesung ist aus Harvard zugänglich. Ich werde in nächster Zeit einige Ausschnitte präsentieren.

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The River Told Me

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Here is a little known terrible Heidegger quote from 1943, to be found in his “Elucidations of Hölderlin’s Poetry”. He ist talking about the German soldiers fighting in the East and dying in Stalingrad:

“… are not the sons of the homeland, who though far distant from its soil, still gaze into the gaiety of the homeland shining toward them, and devote and sacrifice their life for the still reserved find, are not these sons of the homeland the poet’s closest kin?“
(Elucidations, p. 48)

“Ihr Leben verwenden … und im Opfergang verschwenden”. It can hardly get worse.

I gave a talk focussing on Heidegger’s treatment of Hölderlin’s hymn “Der Ister” in Brno, Czech Republic. Here are the slides and the audio recording.

give me a break

The Virtues of Openness: Education, Science, and Scholarship in the Digital Age von Michael A. Peters und Peter Roberts ist kein gutes Buch. Das konnte ich schon auf Seite 38 sagen. Das Kapitel über “Open Scientific Communication” bietet einen Verschnitt zahlreicher für “Offenheit” einschlägiger Trendleader und Kapitel 2 “The Philosophy of Open Science” reiht Bergson, Popper, Soros, Kuhn und Wittgenstgein aneinander. Das kann nichts werden. Dann, auf Seite 39, antizipiert Wittgenstein das Internet:

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Während des Umblätterns der Gedanke “So ein Käse, bin gespannt, ob sie da jemanden zitieren –

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Sein vor Seiendem

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Die Tabelle weißer und schwarzer Filmkader habe ich schon in Präsentation der Präsentation zur Illustration verwendet. Zwei Bemerkungen Andreas Kirchners geben Gelegenheit, nochmals auf zurückzugreifen.

Es kostet Überwindung, eine Wiki-Seite zu löschen. Der Grund ist jedoch nicht der Mangel an Schreibfläche. Ein Wiki kann grob gesagt unbegrenzt viel Text aufnehmen. Trotzdem vermeidet man die Löschung, versucht bereits bestehende Arbeit zu erweitern und nur wenn nötig zu korrigieren.

Diese eigentümliche Scheu hängt mit mehreren Faktoren zusammen

  • Es ist immer genügend Platz vorhanden, das ist A.K’s Hinweis
  • Es ist zwecklos, die Seite verschwindet durch das Löschen nicht
  • Es ist weniger Aufwand, etwas hinzuzufügen, als zum Verschwinden zu bringen und neu zu formulieren

Diese pragmatischen Gründe kann man durch eine spekulative Überlegung ergänzen.

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Eindeutigkeiten

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Ein Hochschullehrer, nennen wir ihn Alex, hält seine Vorlesung, als sich die Türe des Hörsaals öffnet und “Ralph”, ein Kollege, den Raum betritt.

 

RALPH: Ich habe jetzt Prüfungstermin. Ich bin Ralph. Ich habe eine Prüfung hier angemeldet, 11h bis 12h.

ALEX: Das Problem ist, dass ich normalerweise eine Vorlesung oben habe, aber mir ist gesagt worden, dass dieser Raum frei ist.

RALPH: Das ist ein Fehler, denn ich habe diesen Raum schon vor Wochen reserviert.

ALEX: Es ist ein Missgeschick. Der Raum ist für mich genauso reserviert. Es ist nicht so, dass ich Ihnen etwas wegnehmen will.

RALPH: Das ist Interpretationssache.

ALEX: Das ist nicht Interpretationssache. Wir können uns gegenseitig vorwerfen, dass wir einander etwas wegnehmen.

 

“Ralph” hat vor Kurzem einen Text veröffentlicht, in dem er Teile der bestehenden Philosophie als “Handlangerin der Technowissenschaft” bezeichnet und über Eindeutigkeit dieses zu sagen hat:

Indem sie sich unbeirrt um Eindeutigkeit bemüht, wo doch offensichtlich ist, dass die Tugend der Eindeutigkeit zutiefst kolonial ist und alles Mehrdeutige kaputtzumachen droht. Das ist nicht die Philosophie, die gebraucht wird.

Wunsch nach Anerkennung

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Eine Vorlesung bringt es mit sich, dass Studierende mit zunächst neutralen Gesichtern vor einem sitzen und darauf warten, was ihnen gesagt wird. Als Vortragender muss ich eine Sache darlegen, aber das ist nicht alles.

Es handelt sich auch um Szenen mit “attraktiver Dynamik”, speziell auch mit der von Andreas Kirchner angesprochenen Bedürftigkeit. Sie besteht auf beiden Seiten: die Hörerinnen möchten gerne etwas wissen und sie möchten es so erfahren, dass sie “etwas damit anfangen können”. Dass es sie informiert, unterhält, auf neue Gedanken bringt. Und der Vortragende möchte sein Thema verständlich machen, anerkannt werden, Interesse und Sympathie wecken.

Die Größe des Auditorium macht natürlich etwas aus. Die Dimension des Wiener Hörsaals 3D, zehn bis siebzig Studierende, ist ein gutes Experimentierfeld für die Verführung zwischen “Fremdbedarfsdeckung” und “Eigenbedarf”. Ein Blick in den Saal, aus der Position des Vortragenden, ist nicht neutral. Sehr rasch kristallisieren sich Figuren heraus, die ihn quasi verführen wollen bzw. die er zu verführen trachtet. Das beginnt mit der Art, wie jemand sitzt (oder lümmelt) und ist im Gesichtsausdruck manifest.

Unglaublich desinteressierte Kommilitoninnen oder Kommilitonen bevölkern die Hörsäle, zumindest wenn man die Nagelmaneküre, die schläfrige Absenz oder das Tuscheln mit dem Freund als Indikator nehmen kann. Umgekehrt gibt es – im Wortsinn – Teilnehmerinnen an der Vorlesung. Mit ihnen baut sich das Spiel der Verführung auf. Sie reagieren nicht einfach dadurch, dass sie mitschreiben. Sie zeigen auch, dass sie eine Pointe verstanden haben und genießen. Im Vorlesungsbetrieb können sich kleine Epiphanien ergeben, in denen eine “Materie” vor aller Augen in eine Inspiration verwandelt wird. Das ist der Verführungsversuch durch die Vortragende.

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Attraktive Dynamiken: All you need is love?

Jean-Luc Marions Buch “Das Erotische. Ein Phänomen” beschreibt das Moment der Verführung. Als Modell dient der Frauenheld Don Juan, der überraschend den ersten Schritt macht. Der andere wird angezogen. Daraus lässt sich Kapital schlagen. Einseitig: “Sie wird mich lieben, aber ich, nein, ich liebe sie nicht.”

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So gesehen ist Verführung die Kunst des einseitigen Verblüffens, die den anderen dahinschmelzen lässt. Man verspricht dem anderen unsterbliches Investment, mit dem Ziel, ihn zur Hingabe zu bewegen. Die Verführung zeichnet sich dadurch aus, dass einseitig geblufft wird. Der zweite kann das voraussehen: “Ich spiele das Spiel genauso gut wie du”.

Beginnend bei der Verführung, kommt es manchmal vor, dass das Interesse nicht endet, etwa weil sich der andere nicht einfangen lässt. Man bekommt ihn nicht ganz in den Blick, und möchte außerdem nicht aufhören, es zu versuchen. Wird man vom überlegenen Verführer zum Verführten? Wie widerstehlich ist unwiderstehlich?

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Attraktive Dynamiken: Bedürftigkeit

“Erotisches Kapital” heißt ein Buch von Catherine Hakim. Ein Artikel in der Welt stellt die These vor, dass Erfolg oft mit erotischer Ausstrahlung zusammenhängt, und dass man letztere gestalten kann. Dabei wird zum Drüberstreuen ein französischer Philosoph referenziert, weswegen ich darauf gestoßen bin: Jean-Luc Marion. Die Resultate des ~300-Seiten Buches “Das Erotische. Ein Phänomen” werden in drei Sätzen wie folgt zusammengefasst:

[Marions] Erkenntnis: Wer geliebt werden will, muss etwas dafür tun. Anerkennung erreicht man vor allem über Bildung. Dazu zählt er ausdrücklich Herzensbildung mitsamt der Kunst des Lockens, Hinhaltens und endlichem Gewährenlassens.”

Die Verführung ist bei Marions Buch Teil einer vielgestaltigen Bewegung des Eros: Verführung, Erregung, Geschlechtsverkehr, Höhepunkt/Abbruch, Eifersucht, Heirat, Kind, Freundschaftliche Liebe, Gottes Liebe. Im Rahmen der sich an Einwänden und Gegeneinwänden entfaltenden Bewegung ergibt sich im Buch die Möglichkeit der Unterscheidung zwischen dem Wunsch nach weltlichen Objekten (Geld, Drogen, Sex, Macht und Erfolg) und dem Streben nach einer anderen Instanz, die einem eine Antwort finden lässt auf die Frage wozu man existiert.

Plakativ formuliert: Götzen und Gott. Die Unterscheidung ist ziemlich prekär. In einem Vortrag in Wien gibt Marion zu, dass die Rede über Gott dazu verführt, sie mit Gott zu identifizieren und zu verehren. Jede Identifizierung wird als voreilig argumentiert, im Sinne von “netter Versuch”. Dann wird sie eingeklammert – und weiter geht die Fahrt.

Die Suche nach Gott sowie das erotische Streben teilen – wenn man ihren Anspruch verdeutlicht – die Haltung, (1) das Gefundene zu registrieren, sogar sein Angebot wie ein Gast anzunehmen, (2) bei dieser Annahme immer wieder Neues zu entdecken und dadurch (3) beim Gefundenen nicht dauerhaft einzuziehen. Verführung ist ein Ausdruck des Liebens: zubringend, nicht hinreichend:

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