Kellergleichnis

Als philosophischen Impuls beim gestrigen event in Staatz N.Ö. hatte ich mir überlegt, mit der Gegenüberstellung zwischen dem Höhlengleichnis und dem Bergsteiger Zarathustra zu beginnen. Vor mir sprach Alfred Komarek über die Landschaft des Weinviertels und die Gebräuche der Weinherstellung. Plötzlich ergab sich ein neues, anlassbezogenes Bild: das Kellergleichnis. “Mehrere Menschen sind im Keller gefesselt und sehen auf die Schatten, welche die Sonne an der Kellerwand erzeugt.”

fernsprung_staatz2

Ernsthafter: Von der Höhle zum Gipfel herrscht das Gesetz der Zivilisation. Platon ist der Ahnherr des Bildungsgedankens, Nietzsche extrapoliert ihn zum Übermenschen. Mit welchem Bild soll man illustrieren, dass dieser ganze Zauber selbst eine fragwürdige Veranstaltung ist? Dass man (so der erste Beitrag, den ich zu diesem Thema geschrieben habe, aus dem eigenen Körper heraus erwachen und in Gottesgesellschaft stehen kann? Ein Sprungbrett am Abgrund passt gut.

Fröhlicher: Netnakisum ist eine empfehlenswerte Musikerinnen-Gruppe. Sie machte Spaß.

sprunghaft

jgfern

Nächsten Sonntag habe ich auf einer Veranstaltung in Staatz, N.Ö. Gedanken zu einem Projekt zugesagt, das im obigen Bild dargestellt wird. In der Vorbereitung bin ich auf einen Text aus Plotins Enneaden gestoßen (IV, 8, 1-10), der mich unmittelbar gepackt hat. Ich übersetze etwas frei.

Oft, wenn ich aus dem Körper zu mir selbst aufwache, alles andere hinter mir lasse und in mich einkehre, sehe ich die erstaunliche, gewaltige Schönheit und glaube dann sicher, zum höheren Leben zu gehören. Ich befinde mich auf der Spitze des Lebens, dem Göttlichen gleich geworden und in ihm fundiert. Im Vollbesitz meiner Kraft habe ich mich über alles gestellt, was sonst noch geistig ist.

Also in der Luft, zwischen Himmel und Erde. Wie geht das weiter? Fortsetzung folgt.

Platon buchstäblich

Platons Ideenlehre ist ein großer Brocken. Hilfreich sind kleine Ableger, wie die folgende Bemerkung aus dem Staat, 402a. Sie zeigt, wie selbstverständlich diese philosophische Doktrin in gewisser Weise ist.

Gerade also, bemerkte ich, wie wir mit der Schrift damals genügend bekannt waren, als wir die wenigen Buchstaben in allem, worin sie vorkommen, zu erkennen wußten und weder in Kleinem noch in Großem sie mißachteten, als brauchte man sie nicht zu bemerken, sondern überall uns bemühten, sie zu unterscheiden, weil wir nicht eher Schriftkundige wären, bis wir uns auf dieser Stufe befänden.

Buchstaben können sehr verschieden aussehen. Eine Schrift hat man erst verstanden, wenn man die einzelnen Wahrnehmungen auf die jeweiligen Buchstabentypen bezieht. Sie sind die “Ideen”, welche der Wahrnehmungswelt vorausgehen, sofern sie nachvollziehbare Mitteilungen enthält.

Also auch die Bilder von Schriftzeichen, wenn sie uns etwa im Wasser oder in einem Spiegel sichtbar würden, werden wir nicht eher kennen, bis wir sie selbst kennen …

urbangrafitty

(Jazza, stock.xchng)

Open Source Tugend

Front cover of Areté issue 20, 2006.
Image via Wikipedia

Ich kann nicht behaupten, dass mich die Theorie der Tugend je interessiert hätte. Wenn man über Sokrates und Plato arbeitet, kommt man allerdings nicht ganz daran vorbei. Die “ἀρετή” [Arete: Tauglichkeit, Exzellenz, (sittliche) Vortrefflichkeit] hat eine auffällige Position. Einerseits gibt es “gute” Schuster oder Baumeister, andererseits das Streben nach “dem Guten”. Philosophie appliziert die Qualität, die aus handwerklichen Fertigkeiten bekannt ist, auf das menschliche Leben schlechthin.

Erstaunt und neugierig registrierte ich eine Abhandlung über Commons-based Peer Production and Virtue. Sie enthält eine hervorragende Zusammenfassung der wichtigsten Thesen Yochai Benklers und einen lachhaften Versuch, die ganze Gelehrsamkeit etablierter philosophischer Forschung für die Feststellung zu mobilisieren, dass Tugend zur Mitarbeit an open source Projekten veranlasst und dass solche Projekte umgekehrt zur Tugend verhelfen können.

Zeitgleich bemerkte ich ein persönlicher gewendetes Statement zu diesem Zusammenhang. Peter Fleissner formuliert Thesen zur Wissenschaftspolitik, in denen ebenfalls Wissenschaft, Sittlichkeit und open source zusammengeführt werden

Wissenschaftliches Denken darf nicht auf der Ebene des Positivismus stehenbleiben, sondern muss mit Wertfragen und ethischen Dimensionen zusammengeführt werden. Wissenschaft muss menschlich und emanzipatorisch werden, an Friedenserhaltung, sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit ausgerichtet sein und nicht bloß an wirtschaftlichen Partikulärinteressen, was sich auch im Bildungswesen niederschlagen soll. Es wäre zu untersuchen, ob und wie weit Persönlichkeitsbildung (Fähigkeiten zur Kooperation, Selbstkritik, Empathie, Großzügigkeit, Selbstlosigkeit, Perspektivenwechsel, interkulturelle Erfahrungen etc.) im Zuge des Bildungswesens explizit vermittelt werden kann.

Soziale Experimente alternativer Arbeits- und Lebensformen auf freiwilliger Basis sollen nicht verhindert, sondern gefördert, durch Begleitforschung professionalisiert und in den Massenmedien verbreitet und zur Diskussion gestellt werden. Beispiele sind zahlreich: Studienzirkel, regionale Tauschkreise, open source Bewegungen, creative commons, targeted intelligence networks, Kommunen aller Art etc.

Was soll man dazu sagen? Was soll man sagen? Das ist vielleicht das Problem: “Wissenschaftliches Denken darf nicht auf der Ebene des Positivismus stehenbleiben, sondern muss mit Wertfragen und ethischen Dimensionen zusammengeführt werden.” Diesen Imperativen zu gehorchen ist die Voraussetzung dafür, dass sie ihre Arbeit tun.

Ästhetik des Fensterputzens

Schon lange habe ich nichts so Gutes gelesen wie Michael Frieds Arbeit über den US-amerikanischen Fotographen Jeff Wall, seine Fotoinstallation, aufgenommen im Mies van der Rohe Pavillion in Barcelona, und ein Fragment Wittgensteins über Kunst “auf der Bühne” und nach der Entfernung des Theaterrahmens. Sie ist erschienen in Why Photography Matters as Art as Never Before.

EIne Version des Textes ist online: Michael Fried: Jeff Wall, Wittgenstein, and the Everyday

cleaning

Morning Cleaning, Mies van der Rohe Foundation, Barcelona 1999
Transparency in lightbox 1807 x 3510 mm
Collection of the artist, on permanent loan to the Museum für Moderne Kunst, Frankfurt am Main
Cinematographic photograph
© The artist

Ein Videoclip bringt die ersten 9 Minuten des Vortrags, aufgenommen im MuMok 2007:

[youtube WxPABneNmrU super video]

Mission und Dialog in Europa, andersrum

Resurrection
Image by AmahRa58 via Flickr

Alain Badiou ist im Moment einer der prominentesten französischen Philosophen. Eben erschienen ist sein Worfür steht der Name Sarkozy?. Wenn man sich ansieht, wie er gegen die Konventionen der Mainstream Demokratie argumentiert, findet man eine ausgesprochen erlösungstypische Rhetorik. Er ist missionarisch unterwegs.

“Die Illusionen ablegen” heißt kategorisch zu leugnen, daß die Wahl eine echte Entscheidung ist. Es heißt, sie als organisierte Desorientierung zu erkennen, die dem Perso­nal des Staats freie Hand gibt. Das ganze Problem ist dann, diese Illusion affirmativ zu verwerfen, das heißt: das Prin­zip einer Orientierung des Denkens und der Existenz woanders zu finden. Zu diesem Zweck, um die Illusion als Illusion zu erkennen und sie zu verwerfen.”

Es gibt eine in den Grundsätzen falsche Welt, der wir durch einen Erkenntnisschub entkommen können. Er führt zu einer qualitativen Umwertung, durch die die “Arbeiter ohne Papiere” – die Ausgestoßenen dieses “saeculums” – ins Zentrum geraten.

Die Orientierung. Sie erfolgt auf Distanz zum Staat, also insbesondere außerhalb der Wahl. Ihre Sache ist es, noch nicht da Gewesenes im Realen zu konstruieren. Sie besteht in der Inkorporation in einen Wahrheitsprozeß, besonders bei der direkten politischen Organisation de­rer, die hier aus der (falschen) einzigen Welt herausge­halten und in die »andere« Welt abgeschoben werden. Im Kern dieses aus der Welt exilierten Proletariats: die Arbei­ter ausländischer Herkunft. Und im Kern dieses Kerns: die Arbeiter ohne Papiere.

Der Effekt ist eine Extase, eine Überschreitung und eine neue Wahrheit:

Das Subjekt-Werden ist das Ergebnis der als Orien­tierung gedachten Inkorporation. Das menschliche Indi­viduum, das Lebewesen, das darauf abgerichtet ist, an­gesichts der Ware bloß seine unmittelbaren Interessen zu kennen, macht sich zu einer Komponente des Wahrheits­körpers neben anderen, und damit überschreitet es sich als Subjekt.

Woran erkennt man denjenigen, der seine angebliche .,freie Individualität«, will sagen das Stereotyp, in dem er aufgelöst ist (denn was ist monotoner, was einförmiger als die »freien« Individuen der Marktgesellschaft, die zi­vilisierten Kleinbürger, die wie die Papageien ihre lächer­lichen Ängste wiederholen?), in der lokalen Festigkeit einer transindividuellen Wahrheit überwindet?

Das in Aussicht genommene Ergebnis ist sicher attraktiv. Eine

… Überzeugung, daß es unendlich wichtiger ist, zusammen mit vier afrikanischen Arbeitern aus einem Heim, einem Studenten, einem chinesischen Handlanger aus der Textilbranche, einem Postler, zwei Vorstadt-Hausfrauen und ein paar Nachzüglern, ein Treffen zu organisieren, das die Verständigung über einen Punkt und, von den Pressionen des Staates unbeeindruckt, eine Dauer herstellen kann – um ein ihm selbst inkommensurables Unendliches wichtiger, als den Namen eines ununterscheidbaren Politikers in die staatliche Wahlurne zu werfen.

Dennoch ist das eine eigenartige Mischung aus Erweckungs-Mentalität und einer Sprache, die sicher kein Postler versteht. Also braucht Badiou einen Hochschullehrgang für Mission und Dialog in Europa?

Markt Wirtschaft

In den Meldungen ist die Rede von unvorstellbaren Wertverlusten in der Finanzwirtschaft und vom Ende eines Systems. Die Geldbeträge, die zitiert werden, sind für unsereinen jenseits des Fassbaren. Das ist das Schockmoment, aber es wird sofort durch Verständnisversuche aufgefangen. Es ist nicht anders, als nach einem Tsunami oder dem Einmarsch in den Irak.

Wir antworten mit Klischees. Angesichts der Ereignisse ist alles andere unsachgemäß. Und gleichzeitig haben wir Gelegenheit, die Klischees zu zerlegen. Die Washington Post bringt einen hilfreichen Beitrag zur Erklärung der gegenwärtigen Situation. Ein Punkt fällt mir besonders auf.

Die Banken sollen gerettet werden, indem die US-Regierung die problematischen Wertpapiere kauft. Das klingt so, als wäre eine Firma auf einer alten Ware sitzengeblieben und würde Hilfe erhalten. So macht man das den Steuerzahlerinnen verständlich, aber der “revolutionäre” Aspekt der Sache geht tiefer. Die unverkäuflichen Wertpapiere können eben deshalb nicht im Wert bestimmt werden. Wenn der Markt für diese Papierscheine weggebrochen ist, fehlt der Mechanismus, den wir normalerweise zur Bewertung verwenden.

Ein Residuum bleibt zurück. Irgendetwas müssen diese Scheine doch wert sein. Wie ist das zu definieren? Damit verbindet sich die interessante Frage, wieviel Geld der Staat investieren soll/muss, um “Werte” zu erwerben, die sich aus den ökonomischen Transaktionen disqualifiziert haben – und damit die Ökonomie im Ganzen bedrohen.

[youtube 9BHd80YNDLE]

Markenname Wittgenstein

Das diesjährige Wittgensteinsymposium über “Reduktion und Elimination in Philosophie und den Wissenschaften” war ambitioniert und sehr gut besucht. Noch stärker, als im vergangenen Jahr, war das Interesse aus dem Osten, nah und fern. Das heißt: Polen, Tschechische Republik, Russland – aber auch Honkog, Taiwan und Japan.

Zur Eröffnung verursachte ein stellvertretender Sektionschef aus dem Wissenschaftministerium eine leichte Befremdung, als er den Wittgensteinpreis erwähnte, der mit dem Symposium gar nichts zu tun hat. (Es gibt den Wittgenstein-Preis des Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung und den Ludwig Wittgenstein Preis der ÖFG.) Aber die Veranstaltung selbst war nicht besser.

Man könnte das heurige Symposium ein Anti-Wittgenstein-Symposium nennen. Einprägsam brachte das der bewundernswerte Patrick Suppes auf den Punkt:

Ich bin nun zum 4. Mal hier eingeladen und ich habe noch niemals einen ernstzunehmenden Satz über Wittgenstein gesagt.

Es ist ein einfaches ökonomisches Prinzip: Wer einen Markennamen besitzt, muss daran festhalten, um die Kundschaft nicht zu verwirren. Zum Thema “Reduktionismus” alleine kommen wenige Philosophen aus aller Welt nach Kirchberg. Da muss der Philosoph herhalten, der ein Kronzeuge gegen den Reduktionismus ist.

Die Begutachtungsfrist und der Minister

Heute endet die Begutachtungsfrist zur Novelle des UG 2002. Der Senat der Universität Wien hat

diese Stellungnahme abgegeben.

Das ist ein passender Zeitpunkt, sich nochmals in Erinnerung zu rufen, welche Auffassung von Wissenschaft der derzeit noch amtierende Wissenschaftsminister vertritt. Stefan Weber hat sie vor einiger Zeit zusammengetragen. Damals wurde das rasch applaniert.

UPDATE

Unter dieser Adresse habe ich eine detaillierte Analyse der ersten 100 Seiten der Dissertation (inklusive Faksimiles) hinterlegt.

Video: Hegeldiskussion

vlcsnap-9307381.jpg

Vor fast genau einem Jahr (6.6.2007) fand im Festsaal der Gesellschaft der Ärzte eine Podiumsdiskussion zur Aktualität Hegels statt. Anlass war die Präsentation eines Buches zur “Phänomenologie des Geistes” (herausgegeben von Thomas Auinger und Friedrich Grimmlinger). Die davon hergestellte DVD habe ich als Webstream zugänglich gemacht.

h.h.