“in alten Fahrwassern”

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Andreas Kirchner schreibt im vorigen Beitrag über die Geschichtspflege in der Philosophie. Zeitgleich ist die letzte Ausgabe von Information Philosophie erschienen, in der Konrad Liessmann den Hauptessay beisteuert. Die “Information Philosophie” ist (sympathischer Weise) so unzeitgemäß, dass sie (im Moment) noch nicht einmal das Inhaltsverzeichnis am Netz hat. Der Titel des Aufsatzes sei verraten: “Vom Nutzen und Nachteil des Denkens für das Leben”. Und er beginnt, wie zu erwarten, mit Nietzsche und der Unzeitgemäßheit der Philosophie.

Ich verrate auch die Pointe des Essays. Die Philosophie möge sich darauf besinnen:

… dass eine ihrer wesentlichen Aufgaben nicht darin besteht, die Menschen glücklich zu machen oder mit Sinn auszustatten, sondern sie – wenigstens hin und wieder – zu betrüben.”

Eine bemerkenswert klarsichtige Beschreibung der Rolle der Philosophie im Feuilleton. Dazu ein Aufwand von Nietzsche zu Goethe zu Epiktet zu Vico zu Hegel zu Dilthey zu Hugo von Hofmannsthal. Eine vielgestaltige Schlauchverbindung. Andreas: “Alte Schläuche können brechen – beim neuen Wein. Es ist keine Notwendigkeit, dass das Überlieferte Entscheidungen in der aktuellen Lage vorwegnimmt.”

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“better to die ten years from now”

In der aktuellen Ausgabe des New Left Review findet sich ein Gespräch mit Richard Duncan, dem Autor zweier Bücher über die Dollarkrise, Globalisierung und Schuldenfalle.

Er skizziert drei Möglichkeiten, mit der auf Dauer unhaltbaren Praxis umzugehen, stagnierende Volkswirtschaften durch massive Staatsverschuldung anzukurbeln. Die erste Option ist ein drastischer Sparkurs. Er würde direkt in eine globale Rezession führen. Die dritte Möglichkeit, die Duncan empfiehlt, sind weitreichende Programme zur Förderung der Infrastruktur und Produktivität, speziell in den Sektoren Energiewirtschaft und Pharmakologie. Dazwischen liegt das folgende Szenario (Duncan spricht von der US-Regierung):

They can carry on doing this for another five years with very little difficulty, and maybe even for ten years. The US government debt is only 100 per cent of GDP, so they could carry on for another five years and still not hit 150 per cent. But though it’s not clear how high it can go, it can’t go on forever. Sooner or later — say, ten or fifteen years from now — the us government will be just as bankrupt as Greece, and the American economy will collapse into a new Great Depression. So, that’s option two. It’s better than option one, because it’s better to die ten years from now than to die now; but it’s not ideal.

Diese Beschreibung trifft die gegenwärtige Lage. Wir finden uns eingeklemmt zwischen

  • der “revolutionären” Forderung, die bisherige Wirtschaftpolitik zugunsten drastischer fiskaler Einsparungen aufzugeben
  • der optimistischen Zukunftsperspektive, die Weltwirtschaft wäre durch Investitionen zu retten, die nicht dem herrschenden Bankwesen, sondern der Erschließung neuartiger Ressourcen dienen

Auf der einen Seite der augenblickliche Kollaps, auf der anderen der künftige Erfolg, dazwischen: “Wir sind noch einmal davongekommen.” Und nochmals, und nochmals. Aber irgendwann ist Schluss.

Eigenartiger Weise ist das auch eine Beschreibung, wie jedes menschliche Leben abläuft — und endet. Wenn man sich vor Augen hält, dass in Europa vor 70 Jahren Millionen Menschen getötet worden sind, stellt sich die Frage, ob der gepriesene Friede nach dem 2. Weltkrieg nicht abermals auf ein Massensterben hinausläuft.

katastrophale Auswirkungen

 

 

Jean-Luc Nancy; Galilee 2012

 

 

 

Die TAZ bringt die kurze Besprechung eines unlängst erschienenen Buches von Jean-Luc Nancy: Kirschbaumblüte statt Atomausstieg. Es besteht aus einem Vorwort und dem Vortrag im Rahmen einer Videokonferenz: “Philosopher apres Fukushima” an der Toyo University. (Siehe auch deren Journal).

Da ein Projektseminar am Philosophieinstitut der Universität Wien im vergangenen Jahr eine Film zum Thema produziert hat, lohnt sich eine Lektüre. Ich werde in lockerer Folge auf weitere Beiträge aufmerksam machen.
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Ein Durcheinander in iTunes-u

Die John Locke Lectures an der Universität Oxford gehören zu den bekanntesten Vortragsreihen in der Philosophie. Sie besitzen immenses Prestige und bieten ausgewählte Fachleute. Exklusiver und repräsentativer kann man es kaum haben.

Die Vorlesungen sind mittlerweile auf Apples iTunes-u zugänglich. Das ist zunächst einmal ein riesiger Gewinn. Robert Stalnaker (2007), Hartry Field (2008) und David Chalmers (2010) gehören zu den Sprechern, deren Präsentationen zur Verfügung stehen. Leider sind sie kläglich durcheinandergemischt. So sieht ein Ausschnitt ihrer Präsentation aus, der sich in Firefox nicht expandieren läßt.

Will man der Sache näher kommen, muss man sie sich “in iTunes ansehen” und dann erwartet einen die Aufforderung

Linuxbenutzerinnen müssen draußen bleiben. Aus der Sicht Apples ist das verständlich. Aber als Philosophie? Dieses lieblose Listing des Beginns von Datenbankeinträgen, aus dem keine Themen und keine Personen hervorgehen, und stattdessen die Charakteristik “kostenlos” und die Aufforderung zur Verwendung von iTunes hervorgehoben sind?

Begriff und Eingriff

welt * label

Angenommen, die Wissenschaft von den Situationen ist die radikalste Situation, eine die die allgemeinste Gegebenheit, das Gegeben-sein selbst, auf den Begriff bringen will, umgrenzt von Axiomen und organisiert vom Regime des strukturierten Ausdrucks. Genau hier,  durch den höchstmöglichen Grad der Rasterung, lässt sich explizieren, dass jede Ganzheit (jede Totalität der Struktur) ein Ergebnis ist, das (ungefragt) durch einen (fachgerechten?) Eingriff wiederbelebt und weiterentwickelt werden kann.

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Der Zenmeister, der Krug und das Ereignis

Alain Badiou verbindet Mengentheorie mit Existenzialismus, oder soll man sagen, dass er sie durchmischt? Die Grundlegung der Mathematik befasst sich nicht mit Zeit, die menschliche Existenz dagegen ist immer im Augenblick verletzlich. Es gibt zwar einen Rundumblick, innerhalb dessen Menschen das sind, was sie waren und sein werden. Grammatisch kann das mittels der Vorzukunft ausgedrückt werden: “Ich werde sein, was ich schon gewesen bin”. Die Schwierigkeit ist, dass dabei die umwerfende Überraschung (“das Ereignis”) fehlt, die Badious Theorie ebenfalls vorsieht.

Ein Konzert hat mich auf den Gedanken gebracht, dass zu Badious Mixtur auch Zen gehört. (Das wird er vielleicht ungern hören.) Dan Tepfer spielte Bach, er hat 2009 eine CD mit Lee Konitz aufgenommen. In deren liner notes findet sich eine Zen Episode, von der eine Variation nach Alan Watts folgendermaßen lautet.

 

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Zur Freiheit

Eine Notiz in der “Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung” präsentierte ein interessantes Resultat der neuronalen Kognitionsforschung. Das bekannte Libet-Experiment wird in der Regel so interpretiert, dass ein “Bereitschaftspotential” vor der bewusst gewollten “Entscheidung” zu einer Handbewegung diesen Vorgang im Gehirn anstößt. Ergo: Menschen glauben nur, aus eigenem Antrieb zu “handeln”. (Hier ein Überblick.)

Ein französisches Forscherteam hat auf der von Libet ausgearbeiteten Grundlage eine andere Interpretation vorgelegt. Es fügte zum Experiment die Aufgabe hinzu, motorisch auf unvorhersehbare Reize zu antworten und kam zum Ergebnis, dass

  • durch die Experimentalsituation eine allgemein erhöhte Handlungsbereitschaft hervorgerufen wird,
  • die nicht direkt mit zielorientiertem Handeln in Verbindung zu bringen ist,
  • sondern an stochastischen Fluktuationen des Nervenapparates hängt

Sowohl Flußkrebse, als auch Menschen, zeigen solche Potenziale. Die Untersuchung ist im Detail für Laien kaum verständlich. Ich erwähne sie wegen einer “open access” Beobachtung.

In den “Proceedings of the National Academiy of Sciences of the United States of America” ist der Artikel seit 6. August erhältlich. Zwei Tage Zugang kosten US$10.00.

Sollte jemand das Dokument jedoch von Pubget.Find papers fast beziehen wollen, zahlt sie US$20.50.

Und hier ist er gratis zu beziehen. Die Absurdität der Wissenschaft als Kleinhandel.

Was ist Ontologie? Hybride Hybris.

Die Insistenz der Leere ‘in-konsistiert’ als Delokalisierung.

“Sein und Ereignis”, Meditation 6: Alain Badiou synchronisiert aristotelische Überlegungen über die Leere mit von der Mengenlehre inspirierten Überlegungen. Oben befindet sich das Ergebnis. Es ist wie wenn einer die Tonspur eines Films auf stumm stellt und eine Radiosendung darüberlegt. Das führt zu neuen Effekten bei der Rezeption: Die Leere wird vom Horror zum Attraktor. Die Argumentation von Aristoteles bleibt weitgehend gleich, mit einer radikalen Wendung: Die Leere ist kein Ort an dem nichts ist, sondern ein Un-Ort, ein einziger a-topischer Punkt, wie die leere Menge.

Kreativ und faszinierend ist das sicher. Was entsteht ist weder die textgetreue Nacherzählung des traditionellen Materials noch eine streng-formalistische Einführung in die Mengenlehre, sondern ein Hybrid, “a system that can both flow and jump”. Ein Hybridauto bringt distinkte Antriebe unter eine Haube. Die Behauptung bei Badiou: Aristoteles metaphysische Schriften und Mengenlehre passen zusammen. Aber wie?

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peer review global

Vor 35 Jahren kannte man als aufstrebender Philosoph im deutschen Sprachraum zumindest einen Professor, der eine Zeitschrift herausgab und jungen Wissenschaftlern eine Publikationsmöglichkeit bot. Auf diese Weise habe ich im Salzburger Jahrbuch für Philosophie, im Wiener Jahrbuch für Philosophie und im Philosophischen Jahrbuch der Görres-Gesellschaft publiziert, bis ich Mut fasste und zur Zeitschrift für philosophische Forschung aufstieg. Der Kreis der Nachwuchstalente war überschaubar. Mentoren, die man damals noch nicht so nannte, kümmerten sich um den akademischen Nachwuchs.

Die Internationalisierung der philosophischen Forschung, der Publikationsdruck und die Ranking-Tabellen haben das gründlich verändert. Vor einem Monat erhielt ich die Anfrage eines renommierten skandinavischen Journals, ob ich einen Artikel über interkulturelle Ethik, “a transdisciplinarity-oriented study” beurteilen wolle. Das ist überhaupt nicht mein Fachgebiet. Irgendeine verquere Assoziation bei einer Google-Suche muss für diese Einladung verantwortlich sein. Neugierig war ich aber schon, daher sagte ich zu.

Wiley ist einer der wichtigsten Verlage im Buch- und Zeitschriftengeschäft weltweit, entsprechend professionell ist die Zugänglichkeit des Artikels und die Handhabung des Review-Prozesses. An die Stelle der persönlichen Bekanntschaft mit “älteren Staatsmännern” tritt eine Suchmaschine, eine Datenbankstruktur und ganz am Ende ein Schiedsrichter. Ich will das nicht abwerten, die Bedingungen haben sich geändert. Aber der Artikel hatte es wirklich in sich. Read more

Das mitten-im-Sommer Philosophie Symposium?

Das jährliche internationale Wittgenstein Symposium in Kirchberg am Wechsel steht seit langem unter einer allgemeinen Vorgabe, die nicht mit Wittgenstein zu tun haben muss. Dem Philosophen ist eine Sektion gewidmet, die anderen ergeben sich aus dem Rahmenthema. Diese Entwicklung ist verständlich, denn es ist praktisch unmöglich, ein derart ambitioniertes, wohldotiertes Treffen im Jahresabstand ausschließlich auf den Namensgeber zu fokussieren.

In diesem Jahr geht es schwerpunktmäßig um Ethik und Gesellschaft, mit einer Reihe interessanter Referentinnen. In der Ankündigung der Sektionen haben die Verantwortlichen einen locker flockigen Stil gewählt:

The symposium will be held from August 5th through 11th, 2012, in Kirchberg am Wechsel, Austria. Contributions may address this year’s general topic: “Ethics – Society – Politics”, and/or all aspects of the philosophy, work and life of Ludwig Wittgenstein.

Sections:
1. Wittgenstein
2. Living – Healing – Dying
3. Justice – Society – Economy
4. Power – Ethics – Politics
5. Humanity – Nature – Technology
6. History – Concepts – Theories
7. Knowledge – Truth – Science

Man fragt sich schon, ob das die neue Form des flächendeckenden Universalitätsanspruchs der Disziplin ist. Sie präsentiert sich als Triaden vage assoziierter Substantiva. Interessant, was sich sonst in dieser Weise verbindet. Hier ein Ergebnis für das erste Trio.

Prayers for Healing, Living & Dying