Sein vor Seiendem

arnulf-rainer

Die Tabelle weißer und schwarzer Filmkader habe ich schon in Präsentation der Präsentation zur Illustration verwendet. Zwei Bemerkungen Andreas Kirchners geben Gelegenheit, nochmals auf zurückzugreifen.

Es kostet Überwindung, eine Wiki-Seite zu löschen. Der Grund ist jedoch nicht der Mangel an Schreibfläche. Ein Wiki kann grob gesagt unbegrenzt viel Text aufnehmen. Trotzdem vermeidet man die Löschung, versucht bereits bestehende Arbeit zu erweitern und nur wenn nötig zu korrigieren.

Diese eigentümliche Scheu hängt mit mehreren Faktoren zusammen

  • Es ist immer genügend Platz vorhanden, das ist A.K’s Hinweis
  • Es ist zwecklos, die Seite verschwindet durch das Löschen nicht
  • Es ist weniger Aufwand, etwas hinzuzufügen, als zum Verschwinden zu bringen und neu zu formulieren

Diese pragmatischen Gründe kann man durch eine spekulative Überlegung ergänzen.

Read more

Qualitätshüter

Die Universität Wien hat im Rahmen des neuen, dreijährigen Doktoratsstudiums, eine “fakultätsöffentliche Anhörung” und die Befürwortung der Präsentation durch einen “Doktoratsbeirat” eingeführt. Manche Fakultäten nehmen das nicht ernst. “Öffentlich” ist z.B. für Juristinnen, dass ein Expose auf eine Webseite hochgeladen wird. Am Institut für Philosophie ist die Sache sehr gründlich gemacht worde – allzu ernsthaft, wie mehrere Kritikerinnen fanden.

Es folgt mein Rückblick als Mitglied dieses Gremiums.

IMG_0291

Read more

Tonträgerin

tontraeger

Pál Maléter war ein ungarischer Oberst, der während des Aufstands 1956 Verteidigungsminister wurde. Die russischen Interventionstruppen haben ihn verhaftet und 1958 hingerichtet. Ich erwähnte ihn in einem Gespräch mit einer ungarischen Bekannten und dabei unterlief mir eine sprachliche Peinlichkeit.

Zwei Umgangsweisen mit diesem Namen sind unproblematisch. Einerseits kann man ihn unreflektiert so aussprechen, als wäre es ein deutscher Name. Man sagt “Budapest”, obwohl die Ungarn “Budapescht” sagen, also “Pal Maleter”. Oder man richtet sich nach der Originalsprache: “Moleter Pal”. In meinem “politisch korrekten” Fehlversuch waren die beiden Vokale vertauscht “Maleter Pol”. Ein missglückter Ansatz, dem Fremden entgegenzukommen.

An diesen Fehlversuch war ich erinnert, als ich soeben in einem Text den folgenden Satz las:

Denn erstens befinden sich die kulturellen Artefakte auf dem Weg von der feststofflichen Form, die über die Jahrhunderte hinweg ihre Existenz- und Erscheinungsweise war (als Buch, als Tonträgerin oder als bildkünstlerisches Werk), in die digitale Abstraktion (als Datenformat).

Das ist, als würde ich in einem Geschäft für Haushaltswaren eine Konservenöffnerin oder eine Mixerin kaufen wollen. Der Versuch, gendergerecht zu formulieren, ist gründlich fehlgeschlagen. Ein amüsanter, oder auch ärgerlicher, Fall der Überanpassung.

Man kann ihn am Beispiel “Hosenträgerin” gut analysieren. Frauen in Hosen sind Hosenträgerinnen. Aber sie tragen, wenn sie ihre Beinkleider über die Schultern fixieren, keine Hosenträgerinnen.

Wie fair ist unsere Sprache eingerichtet! Der Löffel, die Gabel und das Messer.

Eindeutigkeiten

redlight

Ein Hochschullehrer, nennen wir ihn Alex, hält seine Vorlesung, als sich die Türe des Hörsaals öffnet und “Ralph”, ein Kollege, den Raum betritt.

 

RALPH: Ich habe jetzt Prüfungstermin. Ich bin Ralph. Ich habe eine Prüfung hier angemeldet, 11h bis 12h.

ALEX: Das Problem ist, dass ich normalerweise eine Vorlesung oben habe, aber mir ist gesagt worden, dass dieser Raum frei ist.

RALPH: Das ist ein Fehler, denn ich habe diesen Raum schon vor Wochen reserviert.

ALEX: Es ist ein Missgeschick. Der Raum ist für mich genauso reserviert. Es ist nicht so, dass ich Ihnen etwas wegnehmen will.

RALPH: Das ist Interpretationssache.

ALEX: Das ist nicht Interpretationssache. Wir können uns gegenseitig vorwerfen, dass wir einander etwas wegnehmen.

 

“Ralph” hat vor Kurzem einen Text veröffentlicht, in dem er Teile der bestehenden Philosophie als “Handlangerin der Technowissenschaft” bezeichnet und über Eindeutigkeit dieses zu sagen hat:

Indem sie sich unbeirrt um Eindeutigkeit bemüht, wo doch offensichtlich ist, dass die Tugend der Eindeutigkeit zutiefst kolonial ist und alles Mehrdeutige kaputtzumachen droht. Das ist nicht die Philosophie, die gebraucht wird.

Wunsch nach Anerkennung

somerset

Eine Vorlesung bringt es mit sich, dass Studierende mit zunächst neutralen Gesichtern vor einem sitzen und darauf warten, was ihnen gesagt wird. Als Vortragender muss ich eine Sache darlegen, aber das ist nicht alles.

Es handelt sich auch um Szenen mit “attraktiver Dynamik”, speziell auch mit der von Andreas Kirchner angesprochenen Bedürftigkeit. Sie besteht auf beiden Seiten: die Hörerinnen möchten gerne etwas wissen und sie möchten es so erfahren, dass sie “etwas damit anfangen können”. Dass es sie informiert, unterhält, auf neue Gedanken bringt. Und der Vortragende möchte sein Thema verständlich machen, anerkannt werden, Interesse und Sympathie wecken.

Die Größe des Auditorium macht natürlich etwas aus. Die Dimension des Wiener Hörsaals 3D, zehn bis siebzig Studierende, ist ein gutes Experimentierfeld für die Verführung zwischen “Fremdbedarfsdeckung” und “Eigenbedarf”. Ein Blick in den Saal, aus der Position des Vortragenden, ist nicht neutral. Sehr rasch kristallisieren sich Figuren heraus, die ihn quasi verführen wollen bzw. die er zu verführen trachtet. Das beginnt mit der Art, wie jemand sitzt (oder lümmelt) und ist im Gesichtsausdruck manifest.

Unglaublich desinteressierte Kommilitoninnen oder Kommilitonen bevölkern die Hörsäle, zumindest wenn man die Nagelmaneküre, die schläfrige Absenz oder das Tuscheln mit dem Freund als Indikator nehmen kann. Umgekehrt gibt es – im Wortsinn – Teilnehmerinnen an der Vorlesung. Mit ihnen baut sich das Spiel der Verführung auf. Sie reagieren nicht einfach dadurch, dass sie mitschreiben. Sie zeigen auch, dass sie eine Pointe verstanden haben und genießen. Im Vorlesungsbetrieb können sich kleine Epiphanien ergeben, in denen eine “Materie” vor aller Augen in eine Inspiration verwandelt wird. Das ist der Verführungsversuch durch die Vortragende.

Read more

aneinander, vorbei

Zu Max Biundo hatte ich im vorhergehenden Beitrag geschrieben: “Den Auftritt kann ich nur transluzent nennen. Durch das gesammelte Wissen von Betrug und Täuschung mittels Klischees hindurch strahlt eine Unverfrorenheit welche, noch ein starkes Wort, mesmerisiert.” Das war ein Beispiel aus der Unterhaltungsmusik. Hier ist eines aus der “hohen Literatur”.

dreisessel-g

Adalbert Stifters “Witiko” spielt im Mittelalter. Ein schlichter Reiter macht sich auf den Weg zu seinem Glück. Die textkritische Ausgabe des Werkes ist in Innsbruck erarbeitet worden. Ziemlich am Anfang steigt Witiko im Böhmerwald auf den Dreisesselstein. Auf einer Wiese unterwegs trifft er zwei jodelnde Mädchen. Eines läuft, als sie ihn sieht, davon, das zweite bittet er zu bleiben.

Read more

Max Biundo

In einem Projektseminar des vergangenen Semesters ging es um philosophische Podcasts. An Ende sollten die Studierenden selbst welche produzieren. Eine dabei vorgeschlagene Tonspur enthielt eine Reihe von Fragen an die Philosophie. Ich versah sie mit einem Videogewand:

 

[jwplayer mediaid=”1202″]

 

Die Herkunft der Bestandteile dieser Collage ist auf Podcasts Philosophie Wien dokumentiert. Sie stellt einen Zusammenhang zwischen den maßlosen Fragen des Studierenden und der unermesslichen Sehnsucht her, Antworten auf sie zu erhalten. Die Richtung ist: früher war es schön. Dafür steht Freddy Quinns “Heimweh”. Beim Suchen stieß ich auf Max Biundo. Ein kurzer Text läßt prekäre Verhältnisse erkennen. Die Aufnahme vom März 2010 ist von sanfter Gewalt.

 

Read more

“in alten Fahrwassern”

IMG_0306

Andreas Kirchner schreibt im vorigen Beitrag über die Geschichtspflege in der Philosophie. Zeitgleich ist die letzte Ausgabe von Information Philosophie erschienen, in der Konrad Liessmann den Hauptessay beisteuert. Die “Information Philosophie” ist (sympathischer Weise) so unzeitgemäß, dass sie (im Moment) noch nicht einmal das Inhaltsverzeichnis am Netz hat. Der Titel des Aufsatzes sei verraten: “Vom Nutzen und Nachteil des Denkens für das Leben”. Und er beginnt, wie zu erwarten, mit Nietzsche und der Unzeitgemäßheit der Philosophie.

Ich verrate auch die Pointe des Essays. Die Philosophie möge sich darauf besinnen:

… dass eine ihrer wesentlichen Aufgaben nicht darin besteht, die Menschen glücklich zu machen oder mit Sinn auszustatten, sondern sie – wenigstens hin und wieder – zu betrüben.”

Eine bemerkenswert klarsichtige Beschreibung der Rolle der Philosophie im Feuilleton. Dazu ein Aufwand von Nietzsche zu Goethe zu Epiktet zu Vico zu Hegel zu Dilthey zu Hugo von Hofmannsthal. Eine vielgestaltige Schlauchverbindung. Andreas: “Alte Schläuche können brechen – beim neuen Wein. Es ist keine Notwendigkeit, dass das Überlieferte Entscheidungen in der aktuellen Lage vorwegnimmt.”

Read more

“better to die ten years from now”

In der aktuellen Ausgabe des New Left Review findet sich ein Gespräch mit Richard Duncan, dem Autor zweier Bücher über die Dollarkrise, Globalisierung und Schuldenfalle.

Er skizziert drei Möglichkeiten, mit der auf Dauer unhaltbaren Praxis umzugehen, stagnierende Volkswirtschaften durch massive Staatsverschuldung anzukurbeln. Die erste Option ist ein drastischer Sparkurs. Er würde direkt in eine globale Rezession führen. Die dritte Möglichkeit, die Duncan empfiehlt, sind weitreichende Programme zur Förderung der Infrastruktur und Produktivität, speziell in den Sektoren Energiewirtschaft und Pharmakologie. Dazwischen liegt das folgende Szenario (Duncan spricht von der US-Regierung):

They can carry on doing this for another five years with very little difficulty, and maybe even for ten years. The US government debt is only 100 per cent of GDP, so they could carry on for another five years and still not hit 150 per cent. But though it’s not clear how high it can go, it can’t go on forever. Sooner or later — say, ten or fifteen years from now — the us government will be just as bankrupt as Greece, and the American economy will collapse into a new Great Depression. So, that’s option two. It’s better than option one, because it’s better to die ten years from now than to die now; but it’s not ideal.

Diese Beschreibung trifft die gegenwärtige Lage. Wir finden uns eingeklemmt zwischen

  • der “revolutionären” Forderung, die bisherige Wirtschaftpolitik zugunsten drastischer fiskaler Einsparungen aufzugeben
  • der optimistischen Zukunftsperspektive, die Weltwirtschaft wäre durch Investitionen zu retten, die nicht dem herrschenden Bankwesen, sondern der Erschließung neuartiger Ressourcen dienen

Auf der einen Seite der augenblickliche Kollaps, auf der anderen der künftige Erfolg, dazwischen: “Wir sind noch einmal davongekommen.” Und nochmals, und nochmals. Aber irgendwann ist Schluss.

Eigenartiger Weise ist das auch eine Beschreibung, wie jedes menschliche Leben abläuft — und endet. Wenn man sich vor Augen hält, dass in Europa vor 70 Jahren Millionen Menschen getötet worden sind, stellt sich die Frage, ob der gepriesene Friede nach dem 2. Weltkrieg nicht abermals auf ein Massensterben hinausläuft.

Gespräch zu Ende? Nein, danke.

Die Automatik dieses Blogs deaktiviert die Kommentarfunktion nach einigen Tagen, auch für die Autorin. Dies ist unabhängig vom Datum des letzten Kommentars.  Es liegt mir nahe, dieses Ende nicht zu akzeptieren. Also antworte ich auf das Kommentar des letzten Artikels, und den automatischen Redeverbot, in dieser Form.

Read more