Eindeutigkeiten

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Ein Hochschullehrer, nennen wir ihn Alex, hält seine Vorlesung, als sich die Türe des Hörsaals öffnet und “Ralph”, ein Kollege, den Raum betritt.

 

RALPH: Ich habe jetzt Prüfungstermin. Ich bin Ralph. Ich habe eine Prüfung hier angemeldet, 11h bis 12h.

ALEX: Das Problem ist, dass ich normalerweise eine Vorlesung oben habe, aber mir ist gesagt worden, dass dieser Raum frei ist.

RALPH: Das ist ein Fehler, denn ich habe diesen Raum schon vor Wochen reserviert.

ALEX: Es ist ein Missgeschick. Der Raum ist für mich genauso reserviert. Es ist nicht so, dass ich Ihnen etwas wegnehmen will.

RALPH: Das ist Interpretationssache.

ALEX: Das ist nicht Interpretationssache. Wir können uns gegenseitig vorwerfen, dass wir einander etwas wegnehmen.

 

“Ralph” hat vor Kurzem einen Text veröffentlicht, in dem er Teile der bestehenden Philosophie als “Handlangerin der Technowissenschaft” bezeichnet und über Eindeutigkeit dieses zu sagen hat:

Indem sie sich unbeirrt um Eindeutigkeit bemüht, wo doch offensichtlich ist, dass die Tugend der Eindeutigkeit zutiefst kolonial ist und alles Mehrdeutige kaputtzumachen droht. Das ist nicht die Philosophie, die gebraucht wird.

Wunsch nach Anerkennung

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Eine Vorlesung bringt es mit sich, dass Studierende mit zunächst neutralen Gesichtern vor einem sitzen und darauf warten, was ihnen gesagt wird. Als Vortragender muss ich eine Sache darlegen, aber das ist nicht alles.

Es handelt sich auch um Szenen mit “attraktiver Dynamik”, speziell auch mit der von Andreas Kirchner angesprochenen Bedürftigkeit. Sie besteht auf beiden Seiten: die Hörerinnen möchten gerne etwas wissen und sie möchten es so erfahren, dass sie “etwas damit anfangen können”. Dass es sie informiert, unterhält, auf neue Gedanken bringt. Und der Vortragende möchte sein Thema verständlich machen, anerkannt werden, Interesse und Sympathie wecken.

Die Größe des Auditorium macht natürlich etwas aus. Die Dimension des Wiener Hörsaals 3D, zehn bis siebzig Studierende, ist ein gutes Experimentierfeld für die Verführung zwischen “Fremdbedarfsdeckung” und “Eigenbedarf”. Ein Blick in den Saal, aus der Position des Vortragenden, ist nicht neutral. Sehr rasch kristallisieren sich Figuren heraus, die ihn quasi verführen wollen bzw. die er zu verführen trachtet. Das beginnt mit der Art, wie jemand sitzt (oder lümmelt) und ist im Gesichtsausdruck manifest.

Unglaublich desinteressierte Kommilitoninnen oder Kommilitonen bevölkern die Hörsäle, zumindest wenn man die Nagelmaneküre, die schläfrige Absenz oder das Tuscheln mit dem Freund als Indikator nehmen kann. Umgekehrt gibt es – im Wortsinn – Teilnehmerinnen an der Vorlesung. Mit ihnen baut sich das Spiel der Verführung auf. Sie reagieren nicht einfach dadurch, dass sie mitschreiben. Sie zeigen auch, dass sie eine Pointe verstanden haben und genießen. Im Vorlesungsbetrieb können sich kleine Epiphanien ergeben, in denen eine “Materie” vor aller Augen in eine Inspiration verwandelt wird. Das ist der Verführungsversuch durch die Vortragende.

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Genügend

Eine Lehre aus dem Film “Ich bin Sam” geht um die Frage nach der Beurteilung von Grenzen. Sam Dawson (gespielt von Sean Penn), ein geistig beschränkter Vater will das Jugendamt überzeugen, dass er gegeben seine Einschränkungen in der Lage ist, für sein Kind, die siebenjährige Lucy, zu sorgen. Die Mutter, eine Obdachlose, will weder mit Sam noch Lucy etwas zu tun haben. Lucy soll zu einer Adoptivfamilie, laut Jugendamt. Darum ein Rechtsstreit.

Auf dem Zeugenstuhl gesteht Sam aus Überforderung mit der Befragungssituation ein, dass er ohne Hilfe nicht für Lucy sorgen wird können. Sam scheitert im ersten Versuch, trotz Anwältin Rita Harrison (gespielt von Michelle Pfeifer), die in dem Ruf steht, niemals einen Fall zu verlieren. Für diesen Ruf hat sie das vernachlässigt, weswegen sie ihren “pro bono”-Mandanten Sam vertritt: Zeit mit dem eigenen Kind. Nach der richterlichen Niederlage möchte Sam aufgeben, besucht seine Tochter nicht bei der Gastfamilie, und schließt sich in der Wohnung ein:

(Download: Videoclip)

 

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Attraktive Dynamiken: All you need is love?

Jean-Luc Marions Buch “Das Erotische. Ein Phänomen” beschreibt das Moment der Verführung. Als Modell dient der Frauenheld Don Juan, der überraschend den ersten Schritt macht. Der andere wird angezogen. Daraus lässt sich Kapital schlagen. Einseitig: “Sie wird mich lieben, aber ich, nein, ich liebe sie nicht.”

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So gesehen ist Verführung die Kunst des einseitigen Verblüffens, die den anderen dahinschmelzen lässt. Man verspricht dem anderen unsterbliches Investment, mit dem Ziel, ihn zur Hingabe zu bewegen. Die Verführung zeichnet sich dadurch aus, dass einseitig geblufft wird. Der zweite kann das voraussehen: “Ich spiele das Spiel genauso gut wie du”.

Beginnend bei der Verführung, kommt es manchmal vor, dass das Interesse nicht endet, etwa weil sich der andere nicht einfangen lässt. Man bekommt ihn nicht ganz in den Blick, und möchte außerdem nicht aufhören, es zu versuchen. Wird man vom überlegenen Verführer zum Verführten? Wie widerstehlich ist unwiderstehlich?

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Attraktive Dynamiken: Bedürftigkeit

“Erotisches Kapital” heißt ein Buch von Catherine Hakim. Ein Artikel in der Welt stellt die These vor, dass Erfolg oft mit erotischer Ausstrahlung zusammenhängt, und dass man letztere gestalten kann. Dabei wird zum Drüberstreuen ein französischer Philosoph referenziert, weswegen ich darauf gestoßen bin: Jean-Luc Marion. Die Resultate des ~300-Seiten Buches “Das Erotische. Ein Phänomen” werden in drei Sätzen wie folgt zusammengefasst:

[Marions] Erkenntnis: Wer geliebt werden will, muss etwas dafür tun. Anerkennung erreicht man vor allem über Bildung. Dazu zählt er ausdrücklich Herzensbildung mitsamt der Kunst des Lockens, Hinhaltens und endlichem Gewährenlassens.”

Die Verführung ist bei Marions Buch Teil einer vielgestaltigen Bewegung des Eros: Verführung, Erregung, Geschlechtsverkehr, Höhepunkt/Abbruch, Eifersucht, Heirat, Kind, Freundschaftliche Liebe, Gottes Liebe. Im Rahmen der sich an Einwänden und Gegeneinwänden entfaltenden Bewegung ergibt sich im Buch die Möglichkeit der Unterscheidung zwischen dem Wunsch nach weltlichen Objekten (Geld, Drogen, Sex, Macht und Erfolg) und dem Streben nach einer anderen Instanz, die einem eine Antwort finden lässt auf die Frage wozu man existiert.

Plakativ formuliert: Götzen und Gott. Die Unterscheidung ist ziemlich prekär. In einem Vortrag in Wien gibt Marion zu, dass die Rede über Gott dazu verführt, sie mit Gott zu identifizieren und zu verehren. Jede Identifizierung wird als voreilig argumentiert, im Sinne von “netter Versuch”. Dann wird sie eingeklammert – und weiter geht die Fahrt.

Die Suche nach Gott sowie das erotische Streben teilen – wenn man ihren Anspruch verdeutlicht – die Haltung, (1) das Gefundene zu registrieren, sogar sein Angebot wie ein Gast anzunehmen, (2) bei dieser Annahme immer wieder Neues zu entdecken und dadurch (3) beim Gefundenen nicht dauerhaft einzuziehen. Verführung ist ein Ausdruck des Liebens: zubringend, nicht hinreichend:

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aneinander, vorbei

Zu Max Biundo hatte ich im vorhergehenden Beitrag geschrieben: “Den Auftritt kann ich nur transluzent nennen. Durch das gesammelte Wissen von Betrug und Täuschung mittels Klischees hindurch strahlt eine Unverfrorenheit welche, noch ein starkes Wort, mesmerisiert.” Das war ein Beispiel aus der Unterhaltungsmusik. Hier ist eines aus der “hohen Literatur”.

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Adalbert Stifters “Witiko” spielt im Mittelalter. Ein schlichter Reiter macht sich auf den Weg zu seinem Glück. Die textkritische Ausgabe des Werkes ist in Innsbruck erarbeitet worden. Ziemlich am Anfang steigt Witiko im Böhmerwald auf den Dreisesselstein. Auf einer Wiese unterwegs trifft er zwei jodelnde Mädchen. Eines läuft, als sie ihn sieht, davon, das zweite bittet er zu bleiben.

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Max Biundo

In einem Projektseminar des vergangenen Semesters ging es um philosophische Podcasts. An Ende sollten die Studierenden selbst welche produzieren. Eine dabei vorgeschlagene Tonspur enthielt eine Reihe von Fragen an die Philosophie. Ich versah sie mit einem Videogewand:

 

[jwplayer mediaid=”1202″]

 

Die Herkunft der Bestandteile dieser Collage ist auf Podcasts Philosophie Wien dokumentiert. Sie stellt einen Zusammenhang zwischen den maßlosen Fragen des Studierenden und der unermesslichen Sehnsucht her, Antworten auf sie zu erhalten. Die Richtung ist: früher war es schön. Dafür steht Freddy Quinns “Heimweh”. Beim Suchen stieß ich auf Max Biundo. Ein kurzer Text läßt prekäre Verhältnisse erkennen. Die Aufnahme vom März 2010 ist von sanfter Gewalt.

 

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Personenunfall: Koinzidenz und Koexistenz

Gespannt auf den Film “Hannah Arendt” mache ich mich nach der Arbeit auf den Weg ins Arthouse Picadilly in Zürich Stadelhofen. Der Infoscreen am Bahnhof zeigt Zugverspätungen in meine Richtung. Grund: “Personenunfall in Stadelhofen”, ausgerechnet. Ein Artikel im Medienportal blick.ch enthält ein Bild vom “betroffenen Gleis”. Nachdem ich mit Verspätung in Stadelhofen ankam, spürte ich die Betroffenheit nicht der Gleise, sondern der Menschen. Gegeben meine Zugerfahrung, kam mir die Stimmung zur Stoßzeit in einem Bahnhof noch nie so gelähmt und verstört vor. “Die Dauer der Störung ist unbestimmt.” Am Abend sucht die Stadtpolizei im WWW nach Hinweisen.

Und ich frage mich, was es bedeutet, wenn menschliches Unglück mit Verwaltungsterminologie beschrieben wird. Ist das die “Ideologie der Sachlichkeit”? Ich lande bei einem religionsphilosophischen Salon, der den Film „Hannah Arendt“ zum Anlass nimmt, um die Aktualität der Denkerin zu diskutieren. Das führt mich zu Alain Badious Buch “Ethik” und die Reaktionen auf die Hungerstreikenden Flüchtlinge in der Wiener Votivkirche.

Am nächsten Morgen in besagtem Medienportal heißt es: “Unfall am Bahnhof Stadelhofen – Jetzt ist klar: Der Todessturz […] war ein Unfall”. Die Person erhält ein Alter, ein Geschlecht und eine Nationalität. Die Verspätungen der Bahn werden beiläufig im letzten Absatz erwähnt. So schnell ändern sich Prioritäten.

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“in alten Fahrwassern”

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Andreas Kirchner schreibt im vorigen Beitrag über die Geschichtspflege in der Philosophie. Zeitgleich ist die letzte Ausgabe von Information Philosophie erschienen, in der Konrad Liessmann den Hauptessay beisteuert. Die “Information Philosophie” ist (sympathischer Weise) so unzeitgemäß, dass sie (im Moment) noch nicht einmal das Inhaltsverzeichnis am Netz hat. Der Titel des Aufsatzes sei verraten: “Vom Nutzen und Nachteil des Denkens für das Leben”. Und er beginnt, wie zu erwarten, mit Nietzsche und der Unzeitgemäßheit der Philosophie.

Ich verrate auch die Pointe des Essays. Die Philosophie möge sich darauf besinnen:

… dass eine ihrer wesentlichen Aufgaben nicht darin besteht, die Menschen glücklich zu machen oder mit Sinn auszustatten, sondern sie – wenigstens hin und wieder – zu betrüben.”

Eine bemerkenswert klarsichtige Beschreibung der Rolle der Philosophie im Feuilleton. Dazu ein Aufwand von Nietzsche zu Goethe zu Epiktet zu Vico zu Hegel zu Dilthey zu Hugo von Hofmannsthal. Eine vielgestaltige Schlauchverbindung. Andreas: “Alte Schläuche können brechen – beim neuen Wein. Es ist keine Notwendigkeit, dass das Überlieferte Entscheidungen in der aktuellen Lage vorwegnimmt.”

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Alte Schläuche

Beim Stöbern in den Archivschränken entdeckt Renate plötzlich etwas. “Komm mal her Alice”, ruft sie. Sie zeigt mir ein Buch mit dem Foto einer sehr schönen Frau und fragt: “Hast du die schon mal gesehen?” Nein. Wie heißt sie?
H-e-d-w-i-g D-o-h-m. Den Namen hatten wir noch nie gehört” Aber uns beeindruckt, wie klug und schön die Frau auf dem Cover des Buches aussieht, das sie offensichtlich selbst geschrieben hat. Wir begeben uns auf die Spur der schönen Unbekannten. Doch es wird noch Jahre dauern, bis wir das ganze Ausmaß des Desasters begreifen: Hedwig Dohm (1831-1919) war vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zu ihrem Tod die bekannteste, brillanteste und streitbare Feministin in Deutschland; sie hat Dutzende von Büchern und Artikel veröffentlicht – und eine mindestens ebenso große Anzahl von Schriften ist über und gegen sie erschienen. Und wir “neuen Feministinnen”? Wir kennen nur ein halbes Jahrhundert später noch nicht einmal mehr ihren Namen! (Alice Schwarzer – Lebenslauf, S.297)

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